Kyle Harvey: American Anti-Nuclear Activism, 1975-1990. The Challenge of Peace (= Palgrave Studies in the History of Social Movements), Basingstoke: Palgrave Macmillan 2014, XIII + 221 S., ISBN 978-1-137-43283-4, GBP 60,00
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Wer hierzulande über die Anti-Atomwaffenproteste in den 1980er Jahren spricht, meint die westdeutsche Friedensbewegung. Man denkt an die großen Demonstrationen im Bonner Hofgarten, an die Friedensinitiativen überall im Land, an die Prominentenblockade in Mutlangen. Angst vor einem drohenden Atomtod zu haben, gehörte zum Lebensgefühl der frühen 1980er Jahre - aber nicht nur in Europa. Dass es selbst in jenem Land Widerstand gegen das Wettrüsten gegeben hat, das von Ronald Reagan regiert wurde, ist in der kollektiven Erinnerung weit weniger präsent.
Die US-amerikanische Gesellschaft war tief gespalten in der Frage der Atomraketen. 1982 gingen allein in New York City eine Million Menschen auf die Straßen, um gegen die Politik ihrer Regierung zu protestieren. Freilich war die Bewegung in den USA so heterogen, dass man eher von einem Sammelbecken verschiedener Bewegungen sprechen sollte. Die Bandbreite reichte von der so moderaten wie einflussreichen "Nuclear Weapons Freeze Campaign" bis zur radikalpazifistischen "War Resisters League".
Der australische Historiker Kyle Harvey hat jetzt eine Studie vorgelegt, in der er das Panorama dieser Protestgruppen auffächert. Harveys Blick auf die Friedensbewegung geht durch eine organisationsgeschichtliche Linse. Ihn interessiert, wie soziale Gemeinschaften funktionieren und wie Kollektive mit unterschiedlichen Vorstellungswelten zusammenarbeiten. Es sind deshalb drei Fragehorizonte, die sich wie rote Fäden durch sein Buch ziehen: erstens das Spannungsfeld von Idealismus und Pragmatismus, in dem sich die Gruppen bewegten, zweitens die Professionalisierung des Graswurzelprotests, drittens sein Einfluss auf Politik und Medien.
Die Studie besteht aus sechs Kapiteln. Zunächst schildert Harvey das Aufeinandertreffen der traditionsreichen Anti-Vietnamkriegsbewegung mit den neuen Initiativen, die sich um 1980 bildeten. Er argumentiert, dass die alten Friedensgruppen ihre Radikalität aufgeben mussten, um öffentliche Resonanz zu finden. Im zweiten Kapitel wendet sich Harvey den pragmatischen Gruppen zu. Er beschreibt, wie diese sich erfolgreich professionalisierten, indem sie hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einstellten, sich in ihrer Öffentlichkeitsarbeit von PR-Agenturen beraten ließen oder sogar Werbekampagnen lancierten.
Die amerikanischen Friedensaktivisten der 1980er Jahre waren "polite protestors" (43). Harvey unterstreicht, dass sich jetzt ein neuer Typ von Aktivismus entwickelte, der nicht mehr auf öffentliche Demonstrationen, sondern auf mediale Aufmerksamkeit setzte. Nun schälte sich auch ein zivilgesellschaftliches Engagement heraus, das sich ausschließlich innerhalb des Systems bewegte. Die Aktivisten versuchten jeden Eindruck zu vermeiden, sie befänden sich in einer Traditionslinie mit der Antikriegsbewegung. Sie verwischten auch alle Spuren, die auf eine Verbindung zwischen ihnen und radikalen Pazifisten hindeuteten. Wer in Amerika Erfolg haben wollte, so glaubten sie, musste sich so normal geben wie möglich.
Diese Strategie blieb jedoch umstritten, und gerade Aktivistinnen verweigerten sich dem Mainstream, wie Harvey im dritten Kapitel über die Frauenfriedensgruppen betont. Der Kampf gegen die Atomwaffen galt ihnen als ein Kampf gegen das Patriarchat, und Nuklearpolitik als eine männliche Angelegenheit, zu der sie nicht fähig seien. Harvey kann diesen biologistischen Essentialismus überzeugend historisieren. Das gelingt ihm auch für die Protestweisen der Bewegung. Konkret untersucht er im vierten Kapitel die Aktion "Fast for Life", die ein beträchtliches öffentliches Interesse auf sich zog. Harvey interpretiert sie als ein Beispiel dafür, wie die Friedensaktivisten religiöse Praktiken aktualisierten und erfolgreich in ihr Handlungsrepertoire integrierten.
Ein Vorzug dieses Buches ist es, dass es die große Politik mit dem Alltag der Menschen zusammendenkt. Harvey berichtet im fünften Kapitel davon, wie gewöhnliche Amerikaner im Mittleren Westen mit der atomaren Gefahr umgingen. Er analysiert die Rezeption von "The Day After" in Lawrence, Kansas, wo der Film an Originalschauplätzen gedreht worden war. Den Zeitgenossen erschien die atomare Bedrohung umso furchteinflößender, je enger sie mit ihrer persönlichen Lebensumgebung verknüpft wurde. Auch verhandelten sie in ihren Reaktionen auf den Film Konzepte von "American ordinariness" und belebten den "Heartland Myth" neu, wie Harvey plastisch zeigen kann. Das abschließende sechste Kapitel illustriert noch einmal das Funktionieren der Graswurzelgruppen für den Frieden. Es schildert den "Great Peace March for Nuclear Disarmament", der 1986 von Los Angeles nach Washington, DC, führte.
Harvey hat eine lesenswerte Studie geschrieben, die insbesondere das magistrale Werk von Lawrence Wittner ergänzt und bereichert. [1] Dennoch hinterlässt das Buch einen zwiespältigen Eindruck. Denn die Analyse bleibt allzu häufig bei oberflächlichen Befunden stehen. Immer wieder weist Harvey darauf hin, dass die Amerikaner "nuclear weapons as a symptom of deeper evils" (27) sahen oder dass der Protest "challenged the meanings of activism, of citizenship, and of democracy in the twilight of the Cold War" (164). Er belässt es aber bei solchen Anspielungen und denkt sie nicht zu Ende. So hätte es sich angeboten, den Streit um den Frieden als einen Konflikt zu lesen, in dem nicht nur das Wettrüsten zwischen den Supermächten, sondern tiefer liegende Strukturprobleme der US-Gesellschaft besprochen wurden. Dann wäre es gar nicht mehr nur um die Atomraketen gegangen, sondern auch um die Suche nach der amerikanischen Identität. Ansätze sind bei Harvey vorhanden. Aber er macht wenig daraus.
Das zweite Problem besteht darin, dass dieses Buch zu amerikanisch ist. Denn Harvey interessiert sich nicht für transnationale Austauschprozesse, für Netzwerke mit den westeuropäischen Friedensbewegungen oder für den Transfer und die produktive Aneignung von Wahrnehmungs- und Deutungsmustern. Dass die Amerikaner nicht in einem abgekapselten Raum agierten, sondern mit ähnlich denkenden Menschen in Europa, Australien und Neuseeland interagierten, erwähnt Harvey nur an einer einzigen Stelle (105). Auch wenn er sich in einem anderen Kontext ausführlicher dazu geäußert hat [2], bleibt das Transnationale eine große Leerstelle in diesem Buch. So ist das Gesamtbild ambivalent: Harvey erzählt eine Geschichte, die eine Reihe neuer Einsichten zutage fördert und doch den eigentlich spannenden Fragen aus dem Weg geht.
Anmerkungen:
[1] Lawrence S. Wittner: Toward Nuclear Abolition. A History of the World Nuclear Disarmament Movement. 1971 to the Present, Stanford 2003.
[2] Kyle Harvey: The Promise of Internationalism. US Anti-nuclear Activism and the European Challenge, in: Making Sense of the Americas. How Protest Related to America in the 1980s and beyond, hg. von Jan Hansen / Christian Helm / Frank Reichherzer, Frankfurt am Main / New York 2015 (im Erscheinen).
Jan Hansen