Tobias Becker: Inszenierte Moderne. Populäres Theater in Berlin und London, 1880-1933 (= Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London; Bd. 74), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2014, VIII + 504 S., ISBN 978-3-11-035361-7, EUR 64,95
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Markéta Bartos Tautrmanová: Eine Arena deutsch-tschechischer Kultur. Das Prager Ständetheater 1846-1862, Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2012
Eva Krivanec: Kriegsbühnen. Theater im Ersten Weltkrieg. Berlin Lissabon, Paris und Wien, Bielefeld: transcript 2012
Evelyn Annuß: Volksschule des Theaters. Nationalsozialistische Massenspiele, München: Wilhelm Fink 2019
Hanno Hochmuth / Paul Nolte (Hgg.): Stadtgeschichte als Zeitgeschichte. Berlin im 20. Jahrhundert, Göttingen: Wallstein 2019
Cord Eberspächer (Bearb.): Preußen-Deutschland und China 1842-1911. Eine kommentierte Quellenedition. Bearb. von Cord Eberspächer, Berlin: Duncker & Humblot 2021
Sven Kinas: Akademischer Exodus. Die Vertreibung von Hochschullehrern aus den Universitäten Berlin, Frankfurt am Main, Greifswald und Halle 1933-1945, Heidelberg: Synchron 2018
Tobias Becker / Len Platt: Popular Culture in Europe since 1800. A Student's Guide, London / New York: Routledge 2024
Daniel Morat / Tobias Becker / Kerstin Lange u.a.: Weltstadtvergnügen. Berlin 1880-1930, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2016
Tobias Becker: Yesterday. A New History of Nostalgia, Cambridge, MA / London: Harvard University Press 2023
Das Werk von Tobias Becker ist in vielfacher Hinsicht gewichtig. Es ist aus einer Berliner Dissertation, von Paul Nolte betreut, entstanden und liegt mit 504 Seiten schwer in der Hand. Aber es ist auch inhaltlich - trotz des Themas - kein Leichtgewicht. Es behandelt die sogenannte leichte Muse, die Unterhaltungstheater, in den beiden Metropolen London und Berlin in einer Zeit, in der das lange 19. Jahrhundert noch stark nachwirkte. Der Verfasser lehnt den Ersten Weltkrieg allerdings als Epochenscheide ab, u.a. weil die Ursprünge der Weimarer Populärkultur schon vor 1914 zu finden sind. Er bietet sowohl europäische Theatergeschichte als auch Kultur-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Er geht öfter bis ins 18. Jahrhundert zurück, zieht den roten Faden von der Gesellschaft, die - auch was die Zuschauer anging - der Adel prägte, über das Bürgertum bis zu den neuen Mittelschichten der Angestellten. Die Arbeiterschaft spielte laut Becker kaum eine Rolle. Gelegentlich zieht er zum Vergleich andere Theater-Metropolen wie Paris, Wien oder New York heran und stellt künstlerische Kontakte mit diesen fest. Da die Unterlagen der Theater selbst nicht mehr vorhanden sind, greift der Verfasser auf umfangreiches, meist staatliches Archivmaterial sowie zeitgenössisches Schrifttum, vor allem aber auf Zeitungen und Zeitschriften, zurück.
Es waren um 1900 eigentlich zwei ungleiche Hauptstädte: Hier London, das etablierte Zentrum des britischen Imperiums mit 6,5 Millionen Einwohnern und 60 Theatern, vorwiegend im Stadtteil Westend angesiedelt (vgl. Tabelle 1, 414-416). Dort die stark expandierende Hauptstadt des jungen preußisch-deutschen Staates mit 2,7 Millionen Einwohnern und nur 23 Theatern nahe Friedrichstraße / Unter den Linden (vgl. Tabelle 2, 417-420). Maximilian Harden verpasste Berlin das bezeichnende Etikett "Parvenupolis" (6). Gegenstand von Beckers Buch sind die kommerziellen Theater, die Varietés und Music Halls, die sich seit den 1880er-Jahren etablierten, ihre Menschen auf, vor und hinter der Bühne sowie die rechtlichen Strukturen (Zensur- und Gesellschaftsbestimmungen, deren Wirkungen). Der Film und das Kabarett betrachteten die Theater anfangs als Konkurrenten, bald aber als wirkungsvolle Unterstützung in der Werbung und durch den personellen Austausch. Becker zeigt die vielen Gemeinsamkeiten und die Verschiedenheiten auf. Dazu gehört bis heute die Dominanz der kommerziellen Unterhaltungstheater in London gegenüber der Dominanz der subventionierten in Berlin. Auch die Berührungspunkte mit den Theatern der "Hochkultur" und deren prägenden Figuren lässt der Verfasser - trotz aller sozialen und strukturellen Abgrenzungen - dabei nicht aus.
Zwei Theater stehen im Mittelpunkt: Das Gaiety Theatre, das 1868 im Londoner Westend gegründet wurde, und das Metropol-Theater, das 1892 als Varieté Theater Unter den Linden eröffnet wurde und dessen Tradition die heutige Komische Oper weiterführt. Zwei bemerkenswerte Unterschiede zwischen den Londoner und den Berliner Unterhaltungstheatern seien beispielhaft erwähnt: Zum einen die bis heute sichtbaren architektonischen Unterschiede. Mit dem Ende des Baus von höfischen Theatergebäuden nach 1880 verschwanden in London - anders als in Berlin - aufwendige Fassaden und Treppenhäuser (110-115). Dagegen gab es im Londoner Gaiety Theatre wie in fast allen Theatern des Westends getrennte Eingänge und Treppenhäuser, die die sozialen Schichten voneinander trennten. Das 1892 erbaute Metropol-Theater kannte jedoch ein prächtiges Haupttreppenhaus, in dem sich die Wohlhabenden der Berliner Gesellschaft zeigen konnten. Zum anderen brachen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts die kommerziell arbeitenden "Touring Companies" von London mit ihren erfolgreichen Stücken in die Provinz auf, was in Deutschland deshalb meist nicht notwendig war, weil es in vielen Städten außerhalb Berlins schon kleinere oder größere (subventionierte) Theater gab. Eine wichtige Gemeinsamkeit von London und Berlin, die die Verbreitung der populären Theater förderte, bestand in der Verbesserung des Nahverkehrs durch die Eisenbahn ebenso wie die Einführung der Elektrizität, die für die Werbung und die Bühnentechnik wichtige Innovationen darstellten.
Im Zuge der Liberalisierung der Theater-Gesetzgebung, die in Großbritannien und in Preußen um die Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzte, ersetzte die Konzession für den Betrieb eines Theaters das bisherige feudale Privilegium, wobei die bisherigen Hoftheater (in Berlin die Oper und das Schauspielhaus (jetzt Konzerthaus), in London Drury Lane und Covent Garden) ihre auch sozialen Sonderstellungen behielten. In Berlin wie in anderen deutschen Städten führen sie die Spitze der subventionierten Theater bis heute an. Die Zahl der Schauspielhäuser, die sich geschäftsmäßig der Unterhaltung des Publikums widmeten, auch die der sogenannten "Touring Theatres", nahm trotz der Beobachtung durch den Zensor stark zu: 1850 gab es in London insgesamt 24, 1900 60, 1930 69 Theater. In Berlin wurden um 1850 neben den beiden Hoftheatern 6, 1900 23 und 1920 30 Theater gezählt. Wobei in beiden Städten gegenüber den populären Theatern eine mildere Zensur praktiziert wurde als gegenüber den Theatern der "Hochkultur", den Nachfolgern der Hoftheater, mit ihren erbauenden und manchmal sozialkritischen Programmen. Possen, Varietés und Jahresrevuen boten vor dem Ersten Weltkrieg in Berlin selten ein sozialkritisches Programm. Die kommerziellen Theater wollten unterhalten und damit Geld verdienen. So machte man sich vielleicht noch über August Bebel und vor dem Ersten Weltkrieg sowohl auf den Londoner als auch auf den Berliner Brettern in eher ambivalenter Weise über das Militär lustig. Dafür zeugte in Berlin das Couplet "Donnerwetter - tadellos!" von Julius Freund und Paul Lincke im Jahr 1908. In London begeisterte die britische Nation der Song "Private Tommy Atkins", in dem ein Gefreiter aus der Arbeiterklasse vorgestellt wurde.
Diese wenigen Beispiele für Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Theaterlandschaften in London und Berlin zeigen, wie intensiv und extensiv der Verfasser insgesamt sein Thema untersucht hat. Sein Buch ist ein wichtiges und zugleich gut lesbares Werk zur Geschichte dieser beiden europäischen Hauptstädte. Und es regt zugleich an, als Deutscher eines der vielen Westend-Theater zu besuchen. Er kann wie vor hundert Jahren sicher sein, dass er auf seine Kosten kommt, weil schon der Geschäftssinn der Theatermanager - neben exzellenten Schauspielerinnen und Schauspielern - dafür sorgt, dass ihre Stücke auch Publikumserfolge sind.
Beckers Studie enthält neben einem Stück- und einem Personenregister 12 wichtige Tabellen und 29 Abbildungen, deren Schwarz-Weiß-Qualität leider sehr mäßig ist. Schade, dass der Verlag bei dem Preis nicht mehr investierte.
Ekkehard Henschke