Geneviève Dumas: Santé et société à Montpellier à la fin du Moyen Âge (= The Medieval Mediterranean; Vol. 102), Leiden / Boston: Brill 2015, XIII + 591 S., ISBN 978-9-0042-8239-1, EUR 193,00
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Die Autorin, Spezialistin für mittelalterliche Stadt-, Medizin- und Kulturgeschichte im Mittelmeerraum, legt hier eine umfassende Darstellung der Universitätsstadt Montpellier und ihrer medizinisch-ärztlichen Versorgung im Mittelalter bzw. Spätmittelalter vor. Ihre Abhandlung kreist keinesfalls nur um die spätestens im 14. Jahrhundert berühmte Medizinische Fakultät, deren zunehmend konservatives, vor allem auf Avicenna fußendes Lehrprogramm am Beispiel der Jahre 1488 bis 1500 am Ende vorgestellt wird (was einen erneuten Höhenflug der "École Montpéllieraine de Médicine" im 16. Jahrhundert im Übrigen nicht ausschloss!). Die Stadt war seit dem Hochmittelalter ein Schmelztiegel der Wissenschaften und Kulturen, ein wahrer "lieu d'échanges intellectuels" und profitierte im 14. Jahrhundert zudem von der Nähe der päpstlichen Residenzstadt Avignon. Im Bereich der Krankenversorgung und "Gesundheitsorganisation" standen mittelalterliche Traditionen der Leprösenversorgung Modell, und zahlreiche bereits im 13. Jahrhundert gegründete Hospitäler garantierten - unter verschiedenen privaten, kirchlichen und öffentlichen Trägerschaften - die Pflege und Versorgung mittelloser oder alleinstehender Kranker und Armer. Von solchen Einrichtungen abgesehen, entsprach es der urban-christlichen Kultur, dass die Krankenpflege zunächst durch eine beachtliche Solidarität, ja Subsidiarität im modernen Sinn (!) im familiären Umfeld abgedeckt wurde. Wie in der Antike waren, sobald Menschen in Not gerieten, zunächst einmal Angehörige und Freunde zur Hilfe aufgerufen, wobei auf die dem Ideal der christlichen Nächstenliebe verpflichtete Gesellschaft - im Gegensatz zum heidnischen Altertum - die zusätzliche Aufgabe zukam, sich auch um jene Notleidenden und Fremden zu kümmern, die man zuvor überhaupt nicht gekannt hatte.
Die Ärzte konnten, folgen wir einer provokanten These von Dumas, kaum anders als ihre Dienste mehr oder weniger exklusiv der städtischen Prominenz, dem hohen Klerus und (später) der königlichen Familie zukommen zu lassen - es war die zunehmende Verwissenschaftlichung der Medizin samt ihrer Sprache (ein Phänomen, das im Hinblick auf italienische Universitäten auch Petrarca kritisiert hatte), welche sie mental den breiten Schichten der Gesellschaft entfremdete. Fast zwangsläufig erforderte deren Pflege und Behandlung eine Frühform der "assistance publique", die damals noch nicht staatlich bzw. behördlich gelenkt wurde, sondern zunächst einmal - und zwar für Jahrhunderte - Monopol der Chirurgen und Barbiere wurde. Die These erscheint kühn, entbehrt aber nicht einer gewissen Plausibilität. Die Basisbetreuung der Bevölkerung lag jedenfalls nicht in ärztlich-akademischer Hand. Allerdings sollten das private, städtische und kirchliche Engagement sowie die Gründung entsprechender Hospitäler, Waisenhäuser und sozialer Einrichtungen nicht unterschätzt werden. Auch sie trugen zur "assistance publique" bei, die sich ja nicht nur auf die medizinische Behandlung im engeren Sinn beschränkte.
Chirurgen, Barbiere und Apotheker bildeten früh einflussreiche Zünfte (bereits 1352 sind spezifische Statuten nachweisbar). Ihre Ausbildung war weit weniger homogen und weniger klar strukturiert als jene der akademisch gebildeten Ärzte, doch ließ sich ihr Curriculum im Vergleich mit anderen französischen Universitätsstädten, etwa Paris, rekonstruieren. Zumindest bis zum 16. Jahrhundert nahm das Prestige dieser nichtakademisch ausgebildeten Chirurgen interessanterweise kontinuierlich zu. Ihre Prüfungen kreisten - wie die ärztlichen Examina - um autoritative Texte, etwa die hippokratischen Epistolae de flebotomia. Die entsprechenden Lehrbücher schrieben renommierte Medizinprofessoren. 1399 untersagte Karl VI. Personen ohne akademischen bzw. staatlich kontrollierten praktischen Prüfungsnachweis jegliche Tätigkeit als Arzt, Chirurg oder Apotheker. Interessanterweise rekrutierte sich der chirurgische Nachwuchs aus den verschiedensten Regionen Frankreichs, ja Europas. Man schrieb sich zwar nicht an der Universität ein, doch sprach Henri de Mondeville im frühen 14. Jahrhundert immerhin von scolares. Diese quasi-akademische Aura wurde sicher geschätzt.
Die Autorin widmet weitere Kapitel den jüdischen Ärzten, den Karrieremöglichkeiten der Mediziner (Universitätslehrer, Autor, Praktiker, Prominentenarzt usw.), ihrem Bildungsstand (interessant erscheint hier die Bibliotheksliste des jüdischen Arztes Astruc des Sestiers, 142f.), dem Verhältnis des Studenten zum jeweiligen "maître" (an der medizinischen Fakultät bestand das ursprünglich dem Handwerksstand entliehene Lehrer-Schüler-Verhältnis ganz offensichtlich fort!) und spezifischen Beiträgen und Neuerungen (ein Begriff, der angesichts der Verehrung der als unfehlbar geltenden antiken Autoritäten höchst ambivalent war), die man heute mit Montpellier verbindet. Nicht zuletzt wird die ärztliche Ethik und Deontologie vorgestellt. Die Abhängigkeit von lokalen und regionalen Traditionen ist beeindruckend. Viele Professoren waren auffallend ortsgebunden und scheinen, wie Bernard de Gordon, die Stadt nie verlassen zu haben. Viele scheinen durch ehrgeizige Übersetzungsprojekte geglänzt zu haben (sie lieferten damit den Beweis, dass der autoritative antike Text wirklich verinnerlicht worden war!). Der "Schüler" wurde, was aus didaktischen Gründen durchaus erwünscht war, im 14. und 15. Jahrhundert als Assistent des "maître" wie selbstverständlich zur Krankenversorgung herangezogen, nicht selten aber auch regelrecht ausgebeutet. Ende des 14. Jahrhunderts kam es deshalb sogar zu einer studentischen Revolte (146), auch im Hinblick auf die hohen Gebühren für die Zulassung zu den Examina, die in Gegenwart des Bischofs von Maguelone bzw. seines Vertreters abgehalten wurden.
Auch die "internationalen Beziehungen" der medizinischen Fakultät, etwa nach Lerida, Paris oder zum Königreich Aragon werden herausgestellt. Dazu präsentiert die Autorin Verteilungslisten der Apotheker und Chirurgen im Stadtgebiet. Ärzte waren in Montpellier in der Regel von städtischen Abgaben befreit. Der Abschnitt über Pest und Lepra zeigt die internationalen Standards, die Florenz, Paris oder Venedig vergleichbar waren.
Geneviève Dumas liefert ein facettenreiches Bild zur mittelalterlichen Medizingeschichte in Montpellier, dessen breiter Ansatz (erstmals wird das Thema, dem viele internationale Forscher bereits seit dem 19. Jahrhundert ihre Aufmerksamkeit schenkten, in einheitlicher, kulturhistorischer Perspektive vorgestellt) viele Details erhellt. Ihr Buch stellt zweifellos einen wichtigen Beitrag zur mittelalterlichen Universitätsgeschichte dar.
Klaus Bergdolt