Christian Halbrock: "Freiheit heißt, die Angst verlieren". Verweigerung, Widerstand und Opposition in der DDR: Der Ostseebezirk Rostock (= Analysen und Dokumente; Bd. 40), 2.,korrigerte Auflage, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015, 537 S., mit 8 Tabellen, ISBN 978-3-525-35118-5, EUR 39,99
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Die Geschichte von Widerstand und Opposition in der DDR wird seit Jahren intensiv erforscht. Christian Halbrock legt nun ein Buch vor, das die "Kultur des Widerstehens" (12) für den Ostseebezirk Rostock in den Blick nimmt. Sein Ziel ist es, "das Spektrum politisch abweichenden Verhaltens in seiner Breite zu erfassen" (12) und die Motive, die diesem Handeln zugrunde lagen, herauszuarbeiten. In der Einleitung umreißt der Verfasser souverän den Forschungsstand zum Bezirk Rostock. Die Arbeit fußt hauptsächlich auf der Überlieferung des Staatssicherheitsdienstes der DDR, deren quellenkritische Probleme deutlich gemacht werden. Die Einleitung befasst sich ebenfalls mit den Kategorien des Widerstandes. Der Verfasser gibt einen kenntnisreichen Überblick über die Widerstandsliteratur zum Nationalsozialismus und zur DDR. Hilfreich wäre es gewesen, wenn die von ihm verwendeten Begriffe Nonkonformität, Verweigerung, Protest, Widerstand und Opposition näher erläutert worden wären.
Die Monographie ist in fünf Hauptkapitel gegliedert. Das erste Kapitel widmet sich dem Bezirk Rostock als Untersuchungsgebiet. Wer hier eine sozialökonomische Vorstellung des Ostseebezirkes erwartet, wird enttäuscht. Der Leser erfährt, insgesamt recht unsystematisch, einiges zu städtebaulichen Planungen, zur nicht-mecklenburgischen Herkunft vieler SED-Funktionäre des Bezirkes, zu seinem Ruf als politischer Ruhepol und zu den vor allem kirchlich geprägten Oppositionsgruppen. Der ländliche Raum wird demgegenüber völlig ausgeblendet.
Das zweite Kapitel bietet einen Überblick über die Widerstandsgeschichte des Bezirkes Rostock. Im ersten Teil über die 1940er und 1950er Jahre geht es unter anderem um den Kirchenkampf, den 17. Juni 1953, Spionage, Diversion und Sabotage. Unter den bekannten Personen, die als Träger des Widerstandes porträtiert werden, fehlt Albert Schulz, der 1949 in den Westen geflohene Oberbürgermeister von Rostock. Im zweiten Teil über die 1960er Jahre wird der Widerstand gegen die Kollektivierung der Landwirtschaft und der Fischerei, gegen den Mauerbau 1961 und gegen den Einmarsch von Staaten des Warschauer Vertrages in die Tschechoslowakei 1968 beschrieben. Die Ausführungen zur Landwirtschaft sind, da zu knapp, enttäuschend ausgefallen. Den 1970er Jahren widmet sich der dritte Teil hauptsächlich im Zusammenhang mit der Biermann-Ausbürgerung. In den 1980er Jahren entstand, wie Teil vier zeigt, auch im Norden eine "oppositionelle Infrastruktur" (140). Der Verfasser korrigiert in diesem Kapitel den Mythos von der allwissenden Staatssicherheit und zeigt eindrücklich, dass eben längst nicht alles aufgeklärt werden konnte. Die "Quote der nichtaufgeklärten Fälle" erreichte teilweise einen Wert von sechzig Prozent (146).
Am umfangreichsten ist das Kapitel 3 ausgefallen, das die unterschiedlichen Formen des Widerspruchs und des Widerstands systematisch untersucht. Nacheinander geht es um politisch abweichendes Verhalten, Opposition, fördernde und hemmende Faktoren von Widerstand und Opposition und die Ausreiseantragsteller. Quellenkritisch weist der Verfasser darauf hin, dass sich die Motive derjenigen, die Gegenstand von Untersuchungen des MfS waren, aus dessen Unterlagen nur bedingt rekonstruieren lassen. Der Verfasser liefert in diesem Teil der Arbeit überaus interessante Fallbeispiele. Deutlich lässt sich die Ausweitung des kirchlichen Handlungsspielraums seit den 1970er Jahren belegen, die Kirche musste sich ihre Eigenschaft als "Schutzdach" mühsam und durch Zivilcourage ertrotzen. Ausführlich berichtet der Verfasser über die Entstehung oppositioneller Gruppen im Norden. Es zeigt sich dabei ein größeres Ausmaß als bislang häufig angenommen. Die Mittel, die der Staat einsetzte, um die oppositionelle Tätigkeit der Gruppen unterbinden zu können, werden ebenfalls analysiert. So wurde zum Beispiel in den 1980er Jahren die Verordnung über Ordnungswidrigkeiten novelliert, "um oppositionelle Aktivitäten unterhalb der Schwelle der Inhaftierung wirkungsvoll ahnden zu können." (284) Die Umwelt-, Friedens- und kirchlichen Gruppen agierten nicht isoliert, sondern vernetzten sich mit anderen in der Republik. Im Hinblick auf die Ausreiseantragsteller geht der Verfasser der Frage nach, inwieweit sie zur Opposition in der DDR gehörten. Er kommt zu dem eindeutigen und nachvollziehbaren Ergebnis, dass jene, "deren Engagement über ihr eigentliches Anliegen, die individuelle Ausreise, hinausging", zur Opposition zu zählen sind (297). Der Verfasser macht in diesem Kapitel letztlich auch deutlich, dass die Grenzen zwischen dem jeweils politisch abweichenden Verhalten, also zwischen Nonkonformität, Verweigerung, Widerspruch, Widerstand und Opposition, "häufig fließend" waren und die Begriffe sich "kaum voneinander abgrenzen" (321) ließen.
Das vierte Kapitel beleuchtet den Widerstand im Alltag. Dazu gehörte auch die alltägliche Meckerei. Sie war "eine der häufigsten Formen des politisch abweichenden Verhaltens" (344) in der DDR. Das MfS erfasste die verschiedenen, nicht zwangsläufig vordergründig politischen Unmutsäußerungen "weitgehend undifferenziert" unter dem Sammelbegriff "mündliche Hetze" (337). Immer wieder greift der Verfasser über den selbst gesetzten Rahmen des Ostseebezirkes Rostock hinaus, etwa mit der Schilderung eines Zwischenfalles in Wittenberge im Bezirk Schwerin, einer Protestaktion in Parchim im gleichen Bezirk oder von Geschehnissen in Teterow im Bezirk Neubrandenburg. Hier hätten sich Kürzungen angeboten. Erneut fehlen Aussagen zum ländlichen Raum nahezu völlig. Wurde auf dem Dorf nicht gemeckert? Selbstverständlich - nur findet sich davon kaum etwas in dem Buch. Die weitgehende Ausblendung des ländlichen Raumes ist ärgerlich und wird der auch ländlich geprägten Struktur des Bezirkes Rostock nicht gerecht.
Im Teil über die Wohnraumbesetzungen wären Aussagen über die Formierung informeller Jugendgruppen (Punks, Grufties etc.) im Norden nützlich gewesen. Immerhin werden an einer Stelle feiernde Punks in einer besetzten Wohnung erwähnt, aber man hätte gern mehr zu diesen und anderen Jugendkulturen der 1980er Jahre erfahren. Gerade hier ist doch ein hohes Maß an Nonkonformität zu erwarten. Der Verfasser beschreibt im Kapitel 4 die DDR als eine sich entsolidarisierende Gesellschaft, bringt jedoch auch anschauliche Beispiele für Solidarität mit vom Staat verfolgten Bürgern.
Das letzte Hauptkapitel nimmt Dauerthemen des widerständigen Verhaltens in den Blick. Dazu gehören die mit der Erinnerung an den 17. Juni 1953 verbundenen, stark ökonomisch motivierten Streiks in Betrieben ebenso wie der Kampf gegen den zumeist politisch motivierten Abriss von Kirchenbauten, Fahnenabrisse und die Missachtung staatlicher Symbole. Hinsichtlich der Fluchtversuche über die Ostsee, die ebenfalls thematisiert werden, fehlt der Verweis auf zwei einschlägige Publikationen. [1] In einem Exkurs widerspricht der Verfasser abschließend der Annahme, der Widerstand sei vorzugsweise von Männern dominiert gewesen. Frauen brachten sich bei etlichen Widerstandsformen "ebenso engagiert ein wie männliche Widerstandsleistende" (501). Der Verfasser hat eine Monographie vorgelegt, die quellenkritisch überzeugt, ungemein faktenreich ist, die Kenntnisse über die verschiedenen Formen des Widerstandes im Ostseebezirk Rostock gründlich erweitert und für die weitere Erforschung der DDR vielfältige Anregungen bietet.
Anmerkung:
[1] Christine und Bodo Müller: Über die Ostsee in die Freiheit. Dramatische Fluchtgeschichten, 3. Auflage, Bielefeld 2001; Christine Vogt-Müller: Hinter dem Horizont liegt die Freiheit...Flucht über die Ostsee. Schicksale - Fotos - Dokumente, Bielefeld 2003.
Mario Niemann