Andreas Heinemann: Stadt, Konfession und Nation. Bürgerliche Nationsvorstellungen zur Reichsgründungszeit, Duisburg: Universitätsverlag Rhein Ruhr OHG 2014, 478 S., ISBN 978-3-95605-000-8, EUR 59,00
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Zu den Vorstellungen von deutscher Nation seit der Revolution 1848/49 bis in die ersten Jahrzehnte des Kaiserreichs liegt eine reiche neuere Forschung vor, und auch die regionalen Differenzierungen sind dicht erforscht. Wenn der Blick nun auf einzelne Städte gerichtet wird, lässt sich nicht vermeiden, dass vieles, was bekannt ist, aus lokaler Sicht erneut erzählt wird. Doch dabei bleibt es in dieser Dissertation (Duisburg-Essen) nicht. Dem Autor gelingt es, den Forschungsstand nicht nur zu erweitern, sondern aus dem städtischen Raum heraus ein Bild zu entwerfen, das quellengesättigt zeigt, wie verfehlt es ist, im kleindeutsch-preußischen Nationalstaat von 1871 das Sehnsuchtsziel des deutschen Nationsdenkens zu sehen. Auch das ist nicht neu, doch hier wird die konkurrierende Vielfalt der nationalpolitischen Erwartungen in vier Städten konkret vermessen: Münster, Magdeburg, Göttingen und Freiburg.
Diese Auswahl erlaubt es, innerhalb Preußens eine dominant katholische bzw. evangelische Stadt mit einer zu vergleichen, die erst 1866 mit dem Königreich Hannover annektiert worden ist. Hinzu kommt mit Freiburg eine Stadt in Baden, wo der Kulturkampf besonders früh eingesetzt hatte. Mit diesen Städten wird das national- und konfessionspolitische Spektrum im Deutschen Bund und in der Zeit nach dessen Ende gewiss nicht abgedeckt, doch die große Spannweite in den nationalen Hoffnungen und Ängsten kann überzeugend herausgearbeitet werden. Sichtbar werden auch die Veränderungen, die sich vollzogen, da das Buch chronologisch gegliedert ist (Revolution, 1859-65, Bruderkrieg, Weg zur Reichsgründung, Kulturkampf). Hinzu kommen ein schmales Kapitel "Turnen für Stadt und Nation" und ein umfangreicheres zur Erinnerungskultur, das auch als Bilanz gelesen werden kann.
Zwei Themenblöcke stehen im Mittelpunkt und werden - das gehört zu den Stärken dieses Buches - miteinander verknüpft: erstens, die vielfältig differenzierten Vorstellungen von einer föderativen "Einigkeit" der deutschen Nation, die noch in den 1860er Jahren in den Städten die einheitsstaatlichen Erwartungen überwogen; zweitens, die konfessionell geprägten Nationsvorstellungen, ohne die, das belegt der Autor für alle Städte detailliert, die konkurrierenden Zukunftserwartungen und Geschichtsdeutungen nicht zu verstehen wären. Es geht um evangelisch versus katholisch. Ob spezifisch jüdische Nationsvorstellungen im städtischen Raum keine Rolle spielten oder quellenbedingt nicht sichtbar werden - die Tageszeitungen bilden die Hauptquelle -, thematisiert der Autor nicht. Juden tauchen nur auf, wenn sie öffentlich wahrzunehmen sind. So 1876 als die katholische Ortszeitung penibel alle Häuser nannte, die zum Sedansfest beflaggt waren. Unter ihnen auch zwei Häuser, in den Juden wohnten (295). Ansonsten flaggten nur Protestanten, Staatsbeamte und einige Handwerker, die von Staatsaufträgen abhängig waren. In Göttingen hingegen boykottierte die stark welfisch ausgerichtete protestantische Landeskirche den Sedanstag. Hier sprang eine katholische Kirche ein, die einen Gottesdienst abhielt (333). Die nationalpolitischen und die konfessionellen Fronten waren aufeinander ausgerichtet. Wie sie verliefen, hing von davon ab, in welches Umfeld der städtische Raum eingefügt war.
Doch es gab auch die Städte übergreifenden Gemeinsamkeiten. Überall wurden die nationalpolitischen und die mit ihnen verwobenen konfessionellen Erwartungen in der Stadt konkretisiert. Und überall behaupteten sich föderative Nationskonzepte. In der preußischen Provinzhauptstadt Magdeburg zeigten sie sich in dem Willen, die "Vernichtung Preußens" (44) durch ein Aufgehen in Deutschland zu verhindern, wie es Konservative und Kriegervereine 1848/49 und auch noch nach 1859 befürchteten, während die Liberalen auf eine "Centralisation der Deutschen Staaten unter Preußens Führung" (90) setzten. Doch damit meinten sie 1861 einen Bundesstaat, der zwar unter preußischer Führung stehen, doch Preußens Eigenstaatlichkeit unangetastet lassen sollte. Der Krieg um Schleswig und Holstein führte in Magdeburg dazu, dass ein Teil der Liberalen nun zum Einheitsstaat tendierte, während die Konservativen ihre Hoffnung auf großdeutsche "Einigkeit" mit nationalen Argumenten unterfütterten. Erst der Krieg gegen Frankreich beseitigte die Sperren gegen einen nationalen Einheitsstaat. Doch auch jetzt noch blieben markante Unterschiede in der Deutung der nationalen Einheit bestehen. Während in Münster der Rückgriff auf Reich und Kaiser es erlaubte, von einer Weiterentwicklung zu einer föderalen Einheit der Nation auszugehen, legte man in Magdeburg Wert darauf, in dem neuen Reich eine "genuine Neuschöpfung" der Hohenzollern zu sehen (239). Am schwierigsten war die Situation für die welfisch Gesinnten in Göttingen. Obwohl auch sie sich im Krieg gegen Frankreich zu Deutschland bekannten - ihre Repräsentanten waren kurz vor Kriegsbeginn interniert worden -, meinten sie damit etwas Anderes als die Liberalen. Sie hofften auf einen Bundesstaat, der den Ländern und damit auch dem annektierten Hannover eine Eigenständigkeit belassen werde. Die Konkurrenz um das Verständnis von deutscher Nation ging weiter, nun aber auf neuer staatlicher Grundlage. Übergreifend war, dass es zu einer "Art Wettkampf unter den Städten" kam: man wollte national sein, indem man "die lokalen Wurzeln der Nation" hervorhob (273).
Wie sich der Kampf um die Deutungshoheit von deutscher Nation fortsetzte, nachdem die Entscheidung über die Art der staatlichen Einigung im Krieg gefallen war, zeigt Heinemann für die vier Städte im Kapitel "Kulturkampf - Kampf der Nationen". In Münster traten die Katholiken dem liberalen Verständnis von Nation mit einem Konzept entgegen, in dem Rom nicht als "Feindin", sondern als "die Mutter der deutschen Nationalität" erschien, wie es im Westfälischen Merkur 1871 hieß (287). Er rückte die Liberalen, wie diese es mit ihren Gegnern taten, in die Nähe des Feindes: "in französisch hochmütiger Weise" werde die eigene Nation absolut gesetzt (287). In der föderativen Struktur des neuen Nationalstaates sah diese katholische Zeitung die "großdeutsche Idee ... in einer neuen Form" fortleben (288). Die liberale Nationsvorstellung konnte als Neuheidentum gebrandmarkt werden, ohne sich selber dem Vorwurf auszusetzen, nicht national zu denken. Mit den Piusfesten wurde eine eigene nationale und zugleich kirchlich-papsttreue Festkultur entwickelt. In Magdeburg gab es nicht viele Katholiken, doch auf den römischen Feind in Gestalt des "Ultramontanismus" als national-protestantisches Feindbild mochten die Liberalen auch dort nicht verzichten, um im nationalpolitischen Deutungskampf zu triumphieren. In Göttingen standen die Liberalen der lutherischen Orthodoxie, ein Stützpunkt der welfisch Gesinnten, und den Katholiken im Eichsfeld gegenüber. Auch hier überdauerten die nationalpolitischen Gegensätze und schufen sich Erinnerungssymbole. In Göttingen war es der Tag von Langensalza, in Freiburg der Belfort-Mythos. Heinemann konstatiert für Freiburg ein "Feldlager-Denken" (357), in dem die Katholiken, "die ersten Kinder des Reiches", ihren "wahren und ächten Patriotismus" von dem liberalen Nationalismus absetzten (359).
Katholisches und liberales Geschichtsbild standen sich "quasi spiegelverkehrt" (415) gegenüber. Und so blieb es auch im Nationalstaat. In dessen städtischer Erinnerungskultur setzte sich diese Deutungskonkurrenz fort. In der akademischen Geschichtsschreibung triumphierte die liberale Sicht, in der städtischen Öffentlichkeit nicht. Dort überdauerten die konkurrierenden Geschichtsbilder mit ihren gegensätzlichen Nationsvorstellungen. Die Konzeption einer deutschen Föderativnation wurde nun ein Bollwerk gegen die Borussifizierung der deutschen Nationalgeschichte. Demokraten verwandten sie ebenso wie dynastietreue Konservative, Katholiken ebenso wie landeskirchlich gebundene Protestanten. In Städten anderer Regionen würde man noch weitere Gruppen finden. Und ebenso würde man eine beträchtliche Vielfalt nationaler Zukunftsvorstellungen unter denen, die für Zentralisierung sprachen, entdecken. Diese Entwicklungen zeitlich weiter zu verfolgen, um zu sehen, wie lange in den Städten sich ein Gegenbild zur akademisch-protestantisch-preußischen Deutung der deutschen Nationalgeschichte hielt, ist eine Forschungsaufgabe, die noch aussteht. Dass dies sichtbar geworden ist, gehört zu den Vorzügen dieses Buches.
Dieter Langewiesche