Clemens Zimmermann (ed.): Industrial Cities. History and Future, Frankfurt/M.: Campus 2013, 368 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-593-39914-0, EUR 39,90
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Der Aufstieg der Industriestädte gehört zu den markantesten Entwicklungen des 19. Jahrhunderts insgesamt. Sie veränderten die Landschaft in nie zuvor gesehener Rasanz, sie wurden zu Magneten für eine Vielzahl von Menschen unterschiedlichster Herkunft, sie schufen den Raum für ganz neue soziale Beziehungen und Milieus und vieles andere mehr. Mit dem Niedergang und dem Strukturwandel der klassischen Industrien im 20. Jahrhundert wurden Städte jedoch in zunehmender Weise mit einem Konglomerat von miteinander verwobenen Problemen konfrontiert: Schäden, die die Städte an der Umwelt verursacht hatten, traten zunehmend zu Tage, soziale Probleme wurden zu einer wachsenden Herausforderung und nicht zuletzt zog all das auch ein erhebliches Imageproblem nach sich, denen sich Städte nun stellen mussten.
Dies ist der Hintergrund für den von Clemens Zimmermann herausgegebene Sammelband. Zimmermann gehört zu den profiliertesten deutschen Stadthistorikern, der sowohl mit eigenen Forschungen als auch mit einer Reihe von Projekten die Forschung in diesem Bereich vorangetrieben hat. Mit dem vorliegenden Band verfolgt Zimmerman nun das Ziel, neuere Forschungen zur Stadtgeschichte in einem internationalen Kontext zu präsentieren. Dabei sind Beiträge, die zum einen großen Teil vom cultural und vom spatial turn inspiriert wurden und sich zum anderen neueren Fragestellungen widmen wie etwa einer umwelt- oder mediengeschichtlichen Perspektive. Sechs der insgesamt 15 Beiträge stammen von nicht-deutschen Historikern, konkret aus Großbritannien, Kanada, Tschechien und den Niederlanden.
Nach einer konzisen Einleitung, in der Zimmerman knapp in den Forschungsstand einführt und den Band in seiner Konzeption und seinen einzelnen Beiträgen vorstellt, folgen insgesamt vier thematische Blöcke. Im ersten, mit "research perspectives and historical developments" überschriebenen Teil, nimmt zunächst Simon Gunn in seinem Beitrag eine Typologie der Industriestädte des 20. Jahrhunderts vor. Er unterscheidet dabei drei Typen: klassische, von der ersten und zweiten Industrialisierung geprägte Städte wie Manchester oder Essen, dann die Städte, die entweder am Reißbrett geplant oder im Wesentlichen um ein Unternehmen herum entstanden sind, für die Wolfsburg, aber auch eine Reihe von sozialistischen Städten zentrale Beispiele wären. Den dritten Typ bilden für Gunn Städte, die von einer Mischung aus Industrie und Verwaltung geprägt sind. Gunn betont zum einen, in welchem Maße sich diese Städte in unterschiedlichen Phasen neuen Herausforderungen stellen mussten und in welchem Maße sie durch ihre massiven Eingriffe in die Umwelt in der Vergangenheit bis weit in die Zukunft hinein davon geprägt sein werden.
Mit Fragen des Zusammenhanges von Umweltbelastung und Stadtentwicklung befasst sich auch der Beitrag von Christoph Bernhardt, der sich in einem deutsch-französischen Vergleich mit der Frage auseinandersetzt, wie Städte im 19. und frühen 20. Jahrhundert mit der Herausforderung der Umweltbelastung umgingen. Dabei fällt zum einen ins Auge, wie früh sich die Städte dieses Themas bereits angenommen haben und in welchem Maße vor allem in Frankreich - als Folge eines napoleonischen Dekrets von 1810 - diese Fragen auch schon Gegenstand öffentlicher Debatten waren. Zum anderen wird aber auch deutlich, dass es Unternehmen immer wieder gelang, behördliche Auflagen zu umgehen.
Richard Rodgers beschäftigt sich in seinem Beitrag zur Entwicklung von Industriestädten im 20. Jahrhundert ebenfalls mit der Frage der langfristigen Prägungen. Er betrachtet Städte als Angehörige einer Art "Großfamilie" mit unterschiedlichen Zweigen, die ähnliche Prägungen hatten, aber zum Teil sehr unterschiedliche Entwicklungen nahmen. Dabei hebt er die die Fähigkeit der meisten, wenn auch nicht all der von ihm besprochenen Städte hervor, sich mit Umstrukturierungen und zum Teil schmerzhaften "chirurgischen Eingriffen" wieder eine neue ökonomische Basis zu verschaffen.
Die Beziehung zwischen einer industriellen Metropole und ihrem Umland untersucht Robert Lewis am Beispiel des Calumet District von Chicago. Lewis betont, dass man für die Erklärung der Entwicklung eines solchen industriellen Zentrums dieses nicht als einen geschlossenen Raum betrachten dürfe, sondern dessen vielfältige Vernetzung auf den verschiedensten Ebenen einbeziehen müsse. Denn ebenso, wie diese Vernetzung für den Aufstieg notwendig war, wirke sich deren Auflösung im Prozess der De-Industrialisierung als zusätzliche Belastung aus.
Die im zweiten Teil unter dem Titel "Crises and Recovery" zusammengefassten Beiträge liegen sowohl inhaltlich als auch vom Zugriff her nah beieinander. Drei der vier Aufsätze in diesem Teil untersuchen an je unterschiedlichen Fallbeispielen die teils gelungen, teils wenige gelungen Versuche von Industriestädten, die mit dem Niedergang der Industrien verbundenen Probleme durch Neustrukturierung en zu überwinden. Peter Dörrenbächer macht diese Entwicklung am Beispiel der von der Stahlindustrie geprägten saarländischen Städte in den späten 70er und frühen 80er Jahren deutlich. Er zeigt, dass der Strukturwandel dieser Städte weniger das Ergebnis einer bewussten Strategie als von Aushandlungsprozessen zwischen unterschiedlichen Akteuren war, die vor dem Hintergrund der historisch gewachsenen Gegebenheiten Möglichkeiten der Umstrukturierung ausloteten und mit unterschiedlichem Erfolg umsetzten.
Die Aufsätze von Christine Hannemann und Martina Heßler befassen sich beide mit unterschiedlichen "Autostädten". Christine Hennemann setzt sich mit der Stadt Flint im Bundesstaat Michigan auseinander, die über lange Zeit der größte Produktionsstandort von General Motors war. Nach der Verlegung eines großen Teils der Produktion erlebte Flint einen massiven Niedergang, der auch durch diverse Versuche von Stiftungen, dem Standort neue Perspektiven zu öffnen, kaum abgefedert werden konnte. Martina Heßler zeigt in einem Vergleich zwischen den Autostädten Detroit und Wolfsburg die grundsätzlich ähnliche Ausgangslage und ähnlichen Problematiken. Sie verweist auf die ambivalente Rolle der Autoindustrie, die gleichzeitig Grund für die Krise und für die mögliche Krisenüberwindung war. In beiden Städten betonte die Autoindustrie ihre Verbundenheit mit der jeweiligen Stadt und beförderte das Ziel, die industrielle Basis der Stadt zu verbreitern und zu diversifizieren. Entscheidend für die unterschiedliche Entwicklung der beiden Städte war jedoch, dass VW einen wesentlichen Teil der Produktion in Wolfsburg hielt, nicht zuletzt um die Stadt ihrer Firmenzentrale nicht zum Symbol für Niedergang werden zu lassen - ein Aspekt, der offenbar für General Motors nicht zentral war.
Im vierten und letzten Beitrag dieses Teils befasst sich Jörg Plöger unter dem Titel "Comeback cities" auf der Basis eines international vergleichenden Projektes mit Krisenbewältigungsstrategien in deutschen britischen, italienischen und französischen Industriestädten. Plöger betont die Bedeutung des notwendigen Zusammentreffens von städtischen Maßnahmen zum Erhalt und zur Umstrukturierung industrieller Kerne für die Bewältigung eines "turnaround". Deutlich wird hier, wie auch in anderen Beiträgen dieses Teils, dass auch dort, wo ein solcher "turnaround" für die Städte insgesamt gelungen ist, dies nicht für die von der Krise betroffenen Menschen gelten muss.
Der dritte Teil des Bandes befasst sich vor allem mit den drei Beiträgen von Adelheid von Saldern, Martin Jemelka und Ondřej Ševeček, sowie von Timo Luks unter dem Titel "Cultural and Sociological Concepts" mit Fragen der Verbindung von Stadtkonzepten und Gesellschaftsentwürfen. Adelheid von Saldern setzt sich einer deutsch-amerikanisch vergleichenden Perspektive mit der stadtplanerischen Idee des Fordismus auseinander und argumentiert überzeugend, dass jenseits des übergreifenden Bezugs auf dieses Konzept die Praxis der Stadtplanung dies und jenseits des Atlantik gleichwohl sehr unterschiedlich war und somit die Aneignung des Konzeptes hochgradig variierte.
Daran schließen sich sehr gut die Fallstudien von Martin Jemelka und Ondřej Ševeček zu der mährischen Stadt Zlín und von Timo Luks zu den "industrial villages" Bournville und Rüsselsheim an. Beide Aufsätze zeigen eindrücklich, wie sich gerade in einem noch ländlichen Kontext der Anspruch auf moderne,"fordistische" Planung mit alten paternalistischen Konzepten mischten. Dabei verbindet Luks seine Studie mit einem Plädoyer, gerade für den Entstehungsprozess von Industriestädten die Perspektive noch stärker auf die Verbindung von Stadtentwicklung und Landschaft und Umgebung zu richten.
Der letzte Aufsatz in diesem Abschnitt von Rebecca Madgin "A town without memory? Inferring the industrial past: Clydebank re-built 1941-2013" hat einen etwas anderen Fokus. Er befasst sich aber am Beispiel der schottischen Stadt Clydebank mit einem interessanten Aspekt post-industrieller Stadtplanung. Durch die großflächigen Zerstörungen der deutschen Luftwaffe und die spätere Deindustrialisierung verlor die Stadt ihren Charakter als Industriestadt nahezu vollständig, doch bemühten sich Stadtplaner die Erinnerung an diese industrielle Vergangenheit stadtplanerisch aufrechtzuerhalten, um so die Vergangenheit in die neue Stadtidentität zu inkorporieren.
Besonders innovativ für die Stadtgeschichtsschreibung scheint mir schließlich der letzte Abschnitt zur "mediated industrial city" zu sein. Dabei befassen sich die Beiträge von Judith Thissen und von Rolf Sachsse mit unterschiedlichen Aspekten medialer Repräsentation. Judith Thissen setzt sich mit Rotterdamer Postkarten aus der Zeit zwischen 1880 und 1970 auseinander und arbeitet dabei heraus, wie wenig sich darin lange Zeit Rotterdams Charakter als Industriestadt wiederspiegelt, während Rolf Sachsse das Verschwinden spezifischer Repräsentationsmedien selbst fokussiert: Er widmet sich dem Fotobuch und dem städtischen Werbefilm. Nicht zuletzt verweist Sachsse dabei auf die Leerstellen in diesen Formen medialer Repräsentationen, nämlich das konkrete Zeigen des Arbeitsalltags der in der Industriestadt tätigen Menschen. Diese wiederum spielen in Henry Keazers Beitrag eine zentrale Rolle. Er befasst sich mit dem österreichischen Dokumentarfilmer Michael Glawogger und seinen Filmen "Megacities" von 1998 und "Working Man's Death" von 2005 und zeigt, welche Formen und Folgen die harte körperlicher Arbeit in außereuropäischen Städten der Gegenwart haben. So verweisen alle drei Beiträge einerseits auf das Potenzial einer mediengeschichtlichen Erweiterung der Stadtgeschichte andererseits aber auch darauf, dass sich die mediengeschichtliche Perspektive noch stärker mit anderen Forschungsparadigmen verzahnen müsste. Clemens Zimmermann hatte bereits an anderer Stelle gemeinsam mit Martina Heßler als Forschungsperspektive die Frage nach möglichen Rückwirkungen medialer Repräsentationen auf stadtplanerische Aspekte aufgezeigt.
Es versteht sich von selbst, dass ein Sammelband auch in seinen Einzelteilen nie völlig kohärent sein kann und dass die Beiträge qualitativ variieren. Insgesamt aber wird der Band seinem Anspruch gerecht, wichtige Aspekte und Trends der gegenwärtigen Forschungen zu Industriestädten in einem internationalen Kontext zu präsentieren und dabei neue Ansätze und Perspektiven aufzuzeigen. Wer sich künftig auf nationaler sowie auf internationaler Ebene mit historischen Entwicklungen von Industriestädten befasst, hat mit dem vorliegenden Band einen hervorragenden Bezugspunkt.
Jörg Requate