Sven Beckert: King Cotton. Eine Geschichte des globalen Kapitalismus, München: C.H.Beck 2014, 525 S., 7 Kt., 38 s/w-Abb., ISBN 978-3-406-65921-8, EUR 29,95
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Von der globalgeschichtlich befassten Historikerschar lange erwartet, ist es nun erschienen: Sven Beckerts Buch "King Cotton". Die deutsche Ausgabe wurde zeitgleich mit dem amerikanischen Original "Empire of Cotton" publiziert. Der abweichende deutsche Untertitel des Werkes markiert den Anspruch des Autors, am Beispiel der Baumwolle zugleich eine globale Geschichte des Kapitalismus zu erzählen. Diesen Anspruch einzulösen, gelingt Beckert auf beeindruckende Weise. Und zwar nicht, indem er den heute ubiquitären Kapitalismus von abstrakten volkswirtschaftlichen Theorien eines Karl Marx oder Max Weber herleitet, sondern indem er ihn empirisch aufrollt und dabei virtuos lokale, regionale und globale Erzählebenen miteinander verknüpft. Auch wenn das Buch auf eine 5000-jährige Geschichte ausgreift, widmet es sich vor allem den letzten 300 Jahren. Dabei liegt ein großer Schwerpunkt auf dem 19. Jahrhundert, in dem die Baumwolle, ob als Rohstoff, Ware, industrielles Produkt oder Konsumgut, eine die Weltwirtschaft beherrschende Stellung einnahm.
Während sich Europa bis in die Frühe Neuzeit hinein größtenteils in Wolle, Leinen oder auch Seide hüllte, lag die autochthone Heimat der Baumwolle über Tausende von Jahren vornehmlich in Asien, so in Indien und China. In diese Sphäre asiatischer Subsistenz drang spätestens mit den ostindischen Handelskompanien der Niederlande und Großbritanniens die europäische Expansion ein, die mit der Anwendung kolonialer Gewalt einherging. Beckert nennt diesen expansiven Ausgriff auf das Reich der Baumwolle, den über Jahrhunderte hinweg militärischer Zwang, Ausbeutung, Enteignung, Vertreibung und Versklavung begleiteten, 'Kriegskapitalismus' - einen Begriff, den er anstelle des älteren Konzeptes des Handelskapitalismus stark macht. Die indischen Baumwollstoffe trafen ob ihrer Qualität jedoch nicht nur den modischen Geschmack Europas, sondern auch Afrikas. Mit dem wachsenden Einfluss europäischer Kaufleute im transozeanischen Handel entwickelten sich indische Baumwollartikel an der Westküste Afrikas zum wichtigsten Tauschmittel für dortige Sklaven, die dann in der kolonialen Plantagenwirtschaft der Amerikas zum Einsatz kamen.
Seit etwa 1780 setzte in Großbritannien der Siegeszug der von technischen Innovationen beförderten Industrialisierung ein. So verlagerte sich das Zentrum des Baumwollreichs nach Liverpool und Manchester. Mit diesem "Industriekapitalismus" nahm die notorische "große Divergenz" ihren Anfang. Der ökonomische Erfolg Großbritanniens gelang nur, weil dieses Land einerseits mit imperialer Macht die indische Heimindustrie austrocknete und weil es andererseits auf den überaus günstigen Bezug des Rohstoffes zurückgreifen konnte, der nun im immer größeren Maß im Süden der Vereinigten Staaten kultiviert wurde - unter exzessiver Ausbeutung afroamerikanischer Sklaven. Dieser Aufstieg des "King Cotton" in den USA basierte zugleich auf einer systematischen Vertreibung der amerikanischen Ureinwohner. Dass diese Expropriation von Land nur mit staatlicher Hilfe vonstattengehen konnte, verstärkt bei Beckert die Einsicht, dass die etatistische Komponente bei der Ausbildung des Kapitalismus - entgegen den Vorstellungen von einem liberalen Freihandel - eine zentrale Rolle spielte. Wo die öffentliche Hand nicht Textilfabriken mitfinanzierte, sorgte der Staat für die notwendige Infrastruktur, für den Bau von Eisenbahnen, Kanälen oder Brücken, um den Transport der Warenströme zu erleichtern.
Als es dann im Zeichen des amerikanischen Bürgerkriegs zum Erliegen der heimischen Baumwollproduktion kam, waren es nicht zuletzt britische Staatsbeamte, die auf eine verstärkte Produktion des Rohstoffes in Indien drängten. Neben Indien profitierten Länder wie Ägypten vom amerikanischen Produktionsausfall.
Beckert sieht in dem sukzessiven Umbau des Baumwollimperiums, das nach Ende des amerikanischen Bürgerkriegs in einer neuen Welle des imperialen Kolonialismus auf immer weitere Territorien der Welt ausgriff, eine neue Dynamik des Industriekapitalismus am Werke. Im Verein mit nationalstaatlicher Politik wandelte dieser die Landwirtschaft der Kolonialländer tiefgreifend um. Dass sich dabei wie in Indien, Zentralasien, Ägypten oder Brasilien Jahrhunderte lang bewährte Subsistenzwirtschaft in eine lohnabhängige Rohstoffproduktion verwandelte, belegt nur die unentwegt revolutionäre Kraft des Kapitalismus.
Mit dem Niedergang der Baumwollindustrie im nordatlantischen Raum, der merklich nach dem Ersten Weltkrieg einsetzte, kehrte die Baumwollfabrikation wieder in den globalen Süden zurück, so etwa nach Indien, Brasilien, Japan oder China. Dort führte der antiimperiale Widerstand zu starken Nationalstaatsbewegungen und leitete letztlich die folgenreiche Entkolonialisierung ein. Ökonomisch spielten freilich die viel billigeren Lohnkosten die ausschlaggebende Rolle - sowohl in der Rohstoffproduktion als auch in der Konfektion. Dass sich in diesen Sektoren die Ausbeutung von Frauen und Kindern, die schon charakteristisch für die europäische Textilindustrie gewesen war, gleichsam wiederholte, gehört zu den von Beckert herausgearbeiteten Ironien der Geschichte. Wenn nun in der Gegenwart global agierende Bekleidungsriesen oder Handelsketten wie Gap oder Adidas im Baumwollimperium den Ton angeben, zeugt dies von der jüngsten Kräfteverschiebung zwischen agrarischen Produzenten, Kaufleuten, Industriellen, Arbeitern und staatlichen Stellen.
Mit "King Cotton" ist Beckert ein großer Wurf gelungen. Das gut geschriebene Buch, das in bester angelsächsischer Erzähltradition steht, wechselt ebenso behänd wie instruktiv von strukturaler zu konkreter Betrachtung. Im Vergleich zu Giorgio Riello hat Beckert sowohl zeitlich als auch inhaltlich den Fokus der Untersuchung bedeutend ausgeweitet. [1] Überzeugend wirkt gerade die undogmatische Perspektive auf die Historie des Kapitalismus, den Beckert in seiner empirischen Gestalt vor Augen führt, ohne sich in statistischen Details zu verlieren. Basierend auf einer ganzen Reihe eigener Archivstudien ebenso wie auf einer Synopse der breit gestreuten Sekundärliteratur, versammelt das Buch Materialien aus fünf Kontinenten. Die komparativ-globale Betrachtungsweise über mehr als dreihundert Jahre Geschichte aufrecht zu erhalten, zeugt von einer enormen Syntheseleistung. Die Thesen zum Kriegskapitalismus, zur Rolle staatlicher Akteure und zum agrarischen Sektor in der Ausformung kapitalistischer Wirtschaftsformen werden die Forschungsdiskussion beleben. Die gewissen Unschärfen, die den verwendeten Begriffen 'Kapitalismus', 'Krieg' oder auch 'Staat' eignen, gereichen dem Buch, das zeigen die vielen fruchtbaren Ergebnisse, weit mehr zum Vor- als zum Nachteil. Beckert hat letztlich ein neues Standardwerk globalhistorischer Forschung vorgelegt, dem jeglicher Eurozentrismus fremd ist. Dass der Autor - ganz nebenbei - dem Prozess der Modernisierung, der doch nach liberaler Ansicht als einzige Erfolgsgeschichte zu werten ist, mit dem durchgehenden Verweis auf dessen zerstörerische Dynamik jegliche Unschuld nimmt, kann als eine Erkenntnis zweiter Ordnung gelten. Angesichts der zahlreichen Antworten bei einem so weit gesteckten Fragenkreis, nämlich, die Historie der Baumwolle "als ein umfassendes Ganzes" (15) zu erhellen, erschiene es als eitle Kritik, auf Versäumnisse etwa der Konsum- oder Umweltgeschichte der Baumwolle hinweisen zu wollen.
Anmerkung:
[1] Giorgio Riello: Cotton. The Fabric that Made the Modern World, Cambridge 2013.
Karl Borromäus Murr