Ines Rotermund-Reynard (ed.): Echoes of Exile. Moscow Archives and the Arts in Paris 1933 - 1945 (= Contact Zones; Vol. 2), Berlin: De Gruyter 2015, XVI + 171 S., 7 Farbtafeln, ISBN 978-3-11-029058-5, EUR 79,95
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"In der ganzen Welt verstreut..., wrote Westheim. [1] Indeed, at the time it was the exiles themselves who were scattered all over the world, and still now, decades later, like a second exile, it is their works and documents. And to give a voice to the first exile we need access to the second" (116). Dies umschreibt sehr präzise das Anliegen des Sammelbandes "Echoes of Exile. Moscow archives and the arts in Paris 1933-1945", herausgegeben von Ines Rotermund-Reynard. Erst der Zugang zu den in verschiedenen Archiven verstreuten schriftlichen Dokumenten und Zeugnissen der während der Nazizeit ins Exil getriebenen Künstler, Autoren, Sammler und Wissenschaftler ermöglicht einen erweiterten Zugang zu deren Leben und Kunst.
Das Buch basiert auf der am 23. und 24. Juni 2011 im Deutschen Historischen Institut in Moskau stattgefundenen internationalen Konferenz "Wie das zweite Exil das erste zum Sprechen bringt - Moskauer Archive und die Künste in Paris 1933-1945". Der Sammelband umfasst neun Artikel von internationalen Spezialisten aus verschiedenen geisteswissenschaftlichen Disziplinen, die damit jeweils auch einen individuellen Zugang zu kunsthistorischen Fragestellungen beitragen (VII). So haben die ersten drei Artikel einen eher in das Thema einführenden Charakter, während die letzten fünf Autoren ihre auf Basis oder unter Ergänzung von Archivmaterialien, insbesondere auf Grundlage der Akten aus dem "Sonderarchiv" Moskau, gewonnenen Forschungsergebnisse zu spezifischeren Fragestellungen präsentieren. Eine auch formale Sonderstellung nimmt das Gespräch zwischen der Journalistin Kerstin Holm und dem stellvertretenden Direktor des "Sonderarchivs" Vladimir Korotayev ein. Dieses informiert den Leser aus einer Innensicht über die Geschichte und den Bestand des "Sonderarchivs" Moskau.
Mit den Weltstädten Paris und Moskau werden zwei Pole des Exils benannt. Paris als Fluchtstätte von Kunstschaffenden seit 1933 und Moskau als Ort ihrer Archive, deren Inhalte seit 1990 für die Wissenschaft zugänglich sind. Als kulturelles Zentrum der europäischen Moderne war Paris bereits vor 1933 Sehnsuchts- und Studienort für zahlreiche bildende Künstler. Mit der Machtübernahme und den darauf folgenden zunehmenden Einschränkungen für Personen jüdischer Herkunft oder abweichender politischer Haltung versuchten sich auch zahlreiche Literaten, Künstler oder Wissenschaftler dem Zugriff der Nationalsozialisten durch Flucht zu entziehen. Der bestehende Kontakt zu bereits seit den 1920er-Jahren in Paris lebenden und arbeitenden deutschsprachigen Künstlern war damit auch ein Grund für die Wahl des Exilortes Paris (9). Das Leben und Arbeiten der Exilanten, insbesondere im Hinblick auf die bildenden Künstler, zeichnet Hélène Roussel nach (1-26). So wählten zahlreiche Kunstschaffende Paris als Ort des Exils [2], jedoch wurde auch Frankreich spätestens 1938 ein zunehmend unsicherer Aufenthaltsort für deutschsprachige Flüchtlinge (13). Mit der finalen Machtübernahme der Nazis in Frankreich wurden die Archive der entkommenen oder gefangen genommenen und final ermordeten Exilanten ein erstes Mal beschlagnahmt und verschleppt (24-26). Ein Vorgang, der sich nach dem Einmarsch der Sowjetarmee ein zweites Mal wiederholten sollte (45).
Auf der Basis des nach Paris wieder zurückgekehrten Archivs der Französischen Polizei untersucht etwa Isabelle le Masne de Chermont die Geschichte des Kunstmarktes zwischen den zwei Weltkriegen anhand der Akte von Arthur Goldschmidt. Dieser war Partner von Paul Graupe, einem Berliner Kunsthändler, der nach seiner Flucht aus Nazideutschland in Paris ein neues Geschäft "Paul Graupe & Cie" gründete (75-84).
Heute beherbergt das schon erwähnte, dem Russischen Staatlichen Militärarchiv (RGWA) zugeordnete "Sonderarchiv" Moskau zu großen Teilen jenes Archivgut, welches von der Roten Armee nach ihrem Einmarsch beschlagnahmt wurde. Es umfasst sowohl Aktenmaterial staatlich deutscher Provenienz als auch die zuerst von deutschen Truppen beschlagnahmten Dokumente und Archivmaterialien, die zum überwiegenden Teil aus der Zeit von 1918 bis 1945 stammen. [3] Patricia Kennedy Grimstedts Artikel (45-65) zeichnet den Weg der Archivalien nach und schließt mit einer Liste von Archiven, die im "Sonderarchiv" aufbewahrt wurden oder noch immer dort zu finden sind (61-65).
Deutlich wird der wissenschaftliche Gewinn durch den nun ermöglichten Zugang zum "Sonderarchiv" vor allem in den Beiträgen des Sammelbandes, die konkrete Fragestellungen an die nun zugänglichen Archivmaterialien richten. Exemplarisch zu nennen sind etwa die Forschungsergebnisse zur Akte Paul Westheims. So hatte der Kunsthistoriker Keith Holz die Gelegenheit, insbesondere diese Archivalien des "Sonderarchivs" zu studieren. In seinem Beitrag konzentriert er sich auf die dort gewonnenen Erkenntnisse zum Maler Oskar Kokoschka und dessen vorgesehenen wenngleich auch nicht dort gezeigten Beitrag für die 1938 in London stattgefundene Ausstellung "Twentieth Century German Art" (85-104). Keith Holz rekonstruiert auf der Basis der Akte Westheims unbekannte Details und Abläufe, welche neue Informationen zur Kunstszene während der Nazidiktatur liefern. Auch im Beitrag der Herausgeberin zeigt sich die enorme Dichte der Informationen, die alleine aus der Akte Westheim rekonstruiert und in Zusammenhang mit der jeweiligen Fragestellung untersucht werden konnte. Ines Rotermund-Reynard setzt sich mit der Person und der Rolle der Kunsthistorikerin Charlotte Weidlers auseinander, zeichnet deren Aktivitäten als Informantin und Vertraute Westheims nach und trägt dadurch nicht zuletzt wichtige Informationen zur Vervollständigung der Biografie Westheims selber bei (105-122).
Christina Feilchenfeldt weiterhin konnte als Kunsthistorikerin und Enkelin von Walter Feilchenfeldt, Partner der Paul Cassirer Galerie, neue Informationen aus dem Familienarchiv zur Konferenz beisteuern und beschreibt das komplexe Netzwerk von Künstlern und Kunsthändlern zwischen 1933 und 1945.
Schließlich reiht sich die Veröffentlichung mit dem Beitrag von Bénédicte Savoy (27-44) in die aktuelle Restitutionsdebatte ein. Dennoch wird die Aktualität dieses Themas primär in seiner historischen Dimension konkret benannt und nur an wenigen Stellen als explizite Aufforderung verstanden, weitere Forschungen zu vertiefen oder gar eine offene Restitutionsdebatte auf allen Seiten mit offenem Ausgang neu zu eröffnen. Eine Zurückhaltung, die auch der aktuellen politischen Situation geschuldet sein mag. Stark ist der Sammelband in Momenten, wenn durch die intensive Forschung dieser nun zugänglichen und sukzessive erschlossenen Archive neue Erkenntnisse zur Lebens- und Arbeitssituation der deutschsprachigen Exilanten in Paris und deren systematische Entrechtung gewonnen werden können.
Anmerkungen:
[1] Zum Kunsthistoriker, Herausgeber und Kritiker Paul Westheim (1886-1963) vgl. auch Tanja Frank: Paul Westheim. Kunstkritik aus dem Exil, Hanau 1985; Lutz Windhöfel: Paul Westheim und Das Kunstblatt. Eine Zeitschrift und ihr Herausgeber in der Weimarer Republik, Diss. Köln 1995.
[2] Nicolas Surlapierre: Les artistes allemands en exile en France de 1933 à 1945. Histoire et imaginaire, Diss. Amiens 2000; Keith Holz / Wolfgang Schopf: Im Auges des Exils. Josef Breitenbach und die Freie Deutsche Kultur in Paris 1933 bis 1941, Berlin 2001; Keith Holz: Modern German Art for Thirties Paris, Prague and London. Resistance and Acquiescence in a Democratic Public Sphere, Ann Arbor 2004.
[3] Sebastian Panwitz: Die Geschichte des "Sonderarchivs Moskau", in: Bulletin des Historischen Instituts Moskau 2 (2008), 11-20.
Juliane Mohrland