Rezension über:

Christian Rohr: Historische Hilfswissenschaften. Eine Einführung (= UTB; 3755), Stuttgart: UTB 2015, 284 S., 58 s/w-Abb., ISBN 978-3-8252-3755-4, EUR 21,99
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Rezension von:
Magdalena Weileder
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München
Redaktionelle Betreuung:
Georg Vogeler
Empfohlene Zitierweise:
Magdalena Weileder: Rezension von: Christian Rohr: Historische Hilfswissenschaften. Eine Einführung, Stuttgart: UTB 2015, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 10 [15.10.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/10/27237.html


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Christian Rohr: Historische Hilfswissenschaften

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Innerhalb nur einen Jahres erscheint nun schon die zweite Einführung in die Historischen Grundwissenschaften in der verlagsübergreifenden roten UTB-Reihe. Doch ein Blick in Christian Rohrs "Historische Hilfswissenschaften. Eine Einführung" macht deutlich, dass hier eine völlig andere Herangehensweise verfolgt wird als in der kurz zuvor erschienenen "Materialwissenschaft Mediävistik" von Hiram Kümper. [1]

Denn im Vergleich zu Kümpers vielfältig durch Beispiele, Exkurse und Abbildungen durchbrochenem Text kommt Rohrs Einführung deutlich nüchterner daher. Sie basiert, wie er im Vorwort (9) erklärt, auf einer regelmäßig abgehaltenen Lehrveranstaltung mit dem Titel "Klassische Arbeitstechniken in der Geschichtswissenschaft" und soll nun auch in gedruckter Form Studienanfängern die Grundzüge der Historischen Grundwissenschaften vermitteln.

Dementsprechend folgt die Gliederung dem Aufbau des Proseminars, das seit dem Wintersemester 2000/01 an der Uni Salzburg angeboten wurde. [2] Am Beginn des Buches steht eine knappe Einleitung (11-13), die den aktuellen Stand der Historischen Grundwissenschaften in der deutschsprachigen Geschichtsforschung thematisiert; grundwissenschaftliche Disziplinen werden in sechs Kapiteln zusammengefasst: Quellenkunde einschließlich Editionstechnik, bildliche sowie dingliche Quellen (15-36), Diplomatik mit Sphragistik und Chronologie (37-123), Paläografie mit Kodikologie und Epigrafik (125-212), Archiv- und Aktenkunde (213-219), Historische Geo- und Kartografie (221-240). Die "kleinen" Hilfswissenschaften Numismatik, Metrologie, Heraldik und Genealogie werden in einem Kapitel zusammengefasst (241-256). An den Schluss ist noch ein kurzes letztes Kapitel mit dem Titel "Historische Hilfswissenschaften und das WWW" (257-259) gestellt; im Anhang folgen Nachweise für die 58 Abbildungen und ein Register, das Personen- und Ortsnamen sowie Sachbegriffe enthält; Literaturangaben stehen jeweils am Ende der Unterkapitel.

Auf Fuß- oder Endnoten wurde verzichtet, mancherorts vermisst man sie jedoch: Welche sind etwa die "neue[n], nicht immer unumstrittene[n] Forschungsansätze", die Rohr im Zusammenhang mit physiologischen und psychologischen Aspekten des Schreibens nennt (131)? Oder wo kann der interessierte Leser etwas Genaueres zu den loca credibilia nachlesen (102)? Aus den Literaturlisten lässt sich das nicht erschließen, zudem scheinen diese nicht immer alle Titel zu enthalten, auf die sich Rohr im voranstehenden Kapitel bezieht: Während bei dem größtenteils wörtlich von Goetz' "Proseminar Geschichte" [3] übernommenen Kapitel "3.1 Was versteht man unter historischen Quellen?" der Autor in der nachfolgenden Literaturliste genannt wird, werden an anderen Stellen mehr oder weniger paraphrasierte Passagen übernommen (44 Z. 2-5 nach Goetz 146, Kapitel 4.5, 82f. nach Goetz 139), ohne dass der Autor in der jeweiligen Liste erscheint.

Dagegen scheinen manche Titel, die dort genannt werden, nur oberflächlich berücksichtigt worden zu sein. Der Satz: "Im Gegensatz zu der von Heinrich Brunner begründeten Lehrmeinung wird heute allerdings der Unterschied zwischen der carta als einer 'rechtsetzenden' (dispositiven) Urkunde und der notitia als Beweisurkunde nicht mehr so scharf gesehen" (84), wirkt wie nachträglich eingefügt. Rohr widmet carta und notitia dennoch je ein eigenes Kapitel und hält durchgehend - entgegen dem etwa von Vogtherr und Härtel klar zusammengefassten Forschungsstand [4] - an der Unterscheidung nach rechtlichen Kriterien fest (83-95, 107f.). Auch das Sphragistik-Kapitel (112-117), in dem Rohr vor allem Etappen der Entwicklung von Herrscher- und Papstsiegeln wiedergibt, wirkt unbeeinflusst von neueren Veröffentlichungen, etwa von Andrea Stieldorf und Toni Diederich. [5]

Der Eindruck fehlender Aktualität verstärkt sich an anderen Stellen: Die Beispielseite aus einer MGH-Edition (50) stammt aus dem Jahr 1893, Archivalien werden zum Teil in der schlechten Qualität alter Schwarz-Weiß-Kopien abgebildet (69, 78, 98, 100, 107). Das Kapitel "Karten, Atlanten und Landvermessung von der Antike bis heute [!]" endet im 18. Jahrhundert (236), Digitalisierung wird nur auf den letzten beiden Seiten des Buches angesprochen (257f.).

An den Anfang seiner Einführung hatte Rohr die Frage gestellt: "Wozu brauchen wir die Historischen Hilfswissenschaften?" (11) Doch die erklärte Absicht, "die zahlreichen Anwendungsgebiete der Historischen Hilfswissenschaften in der Fachwissenschaft und über die Disziplinengrenzen hinaus deutlich zu machen" (9), wird kaum umgesetzt. Rohr erwähnt nur vereinzelt und stichpunktartig Forschungsfelder, für die grundwissenschaftliche Kenntnisse hilfreich sein könnten (12, 39, 254). Konkrete Fragestellungen, die mit oder in den Historischen Grundwissenschaften aktuell bearbeitet werden oder zukünftig bearbeitet werden sollten, werden nicht erwähnt. So sei z.B. die Beschäftigung mit Urkunden im 19. Jahrhundert "gleichsam als melancholischer Rückblick auf das Mittelalter nach dem Ende des Heiligen Römischen Reiches" betrieben worden. Dass sie zweifellos auch noch im 21. Jahrhundert wissenschaftliche Relevanz hat [6], geht aus der Darstellung nicht hervor.

Wenn Rohrs Einführung der erste Berührungspunkt mit den Historischen Grundwissenschaften ist, bleibt der Leser eher ohne Antwort auf die Eingangsfrage zurück. Ein Gegenargument für die etwas weiter unten formulierten Frage: "Warum wirkt auf viele die Arbeit mit Archivquellen als altmodisch und verstaubt?" (11), liefert sie - zu Unrecht! - leider auch nicht. Macht man sich aber bewusst, dass die grundwissenschaftliche Forschung in einigen Bereichen bereits weiter fortgeschritten ist, kann das Buch einer ersten Orientierung dienen.


Anmerkungen:

[1] Hiram Kümper: Materialwissenschaft Mediävistik. Eine Einführung in die Historischen Hilfswissenschaften, Wien u.a. 2014, vgl. auch die Rezension in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 6 [15.06.2015], http://www.sehepunkte.de/2015/06/26166.html [09.09.2015].

[2] Vgl. https://www.sbg.ac.at/ges/people/rohr/lehrtaetigkeitsbg.htm [09.09.2015].

[3] Hans-Werner Goetz: Proseminar Geschichte. Mittelalter, Stuttgart 32006, hier: 80.

[4] Thomas Vogtherr: Urkundenlehre. Basiswissen, Hannover 2008, 19f.; Reinhard Härtel: Notarielle und kirchliche Urkunden im frühen und hohen Mittelalter, Wien u.a. 2011, 51f.

[5] Andrea Stieldorf: Siegelkunde. Basiswissen, Hannover 2004; Toni Diederich: Siegelkunde. Beiträge zu ihrer Vertiefung und Weiterführung, Wien u.a. 2012.

[6] Vgl. z.B. Claudia Märtl: Die Relevanz der Beschäftigung mit Urkunden, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 149 (2013), 131-136.

Magdalena Weileder