Rezension über:

Carmen Flum: Armeleutemalerei. Darstellungen der Armut im deutschsprachigen Raum 1830-1914, Merzhausen: ad picturam 2013, 260 S., 60 Farb-, 55 s/w-Abb., ISBN 978-3-942919-00-5, EUR 48,00
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Rezension von:
Maximiliane Buchner
Universität Innsbruck
Redaktionelle Betreuung:
Ekaterini Kepetzis
Empfohlene Zitierweise:
Maximiliane Buchner: Rezension von: Carmen Flum: Armeleutemalerei. Darstellungen der Armut im deutschsprachigen Raum 1830-1914, Merzhausen: ad picturam 2013, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 11 [15.11.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/11/24617.html


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Carmen Flum: Armeleutemalerei

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Mit ihrer Untersuchung zur Armeleutemalerei und der Fokussierung auf die "Darstellung von Menschen, die ihren Lebensunterhalt nicht oder kaum noch aus eigener Kraft bestreiten können" (17) widmet sich Carmen Flum einem bislang wenig erforschten Spezialgebiet der Kunst des 19. Jahrhunderts: Nämlich einem Teilbereich der Genremalerei, wo Armut als Mittelpunkt des Bildgeschehens und nicht nur als pittoreskes Dekorum einer anderen Geschichte zu verstehen ist, bei der Bettler und elende Gestalten lediglich als Nebenfiguren oder Staffage Einsatz finden.

Der Zeitraum, auf den die Betrachtung angelegt ist, erstreckt sich auf die Jahre zwischen Vormärz und Ausbruch des ersten Weltkrieges, in denen die soziale Frage an Virulenz gewann. Dabei machte die Armeleutemalerei nur einen äußerst geringen Prozentsatz am allgemeinen Kunstschaffen aus, wie die Autorin in umfangreichen statistischen Auswertungen veranschaulicht. Kunstkritik wie Publikum schienen mit der Thematik überfordert und kamen häufig zu dem Schluss, "Kunst [müsse] erheben statt in den Rinnstein hinabzusteigen", wie Kaiser Wilhelm II. in einer Ansprache 1901 forderte (182) - Armutsvorstellungen waren nicht dazu geeignet, den Glanz des neuen Kaiserreiches zu repräsentieren.

Die Frage nach der rechtlichen und caritativen Organisation von Armut schafft in einem einführenden Kapitel zunächst einen Überblick über die Kriterien, nach denen Menschen oder Lebensumstände überhaupt als "arm" bezeichnet wurden. Daraus wird deutlich, dass Probleme wie Obdachlosigkeit, Hunger und Bettelei als Folge der "Massenarmut im 19. Jahrhundert" (21) zum Alltagsbild sowohl in der Stadt als auch auf dem Land gehörten.

Verbreitungsorte für die Armeleutemalerei lassen sich vor allem in den großen deutschen Kunstausstellungen in Berlin und München sowie in der neu aufkommenden illustrierten Presse finden. Anhand einer Auswertung der Ausstellungskataloge macht die Autorin deutlich, dass der Anteil an Armeleutebildern auf den Schauen verhältnismäßig gering war. Bezüge zum Zeitgeschehen wie dem Weberaufstand in Schlesien sind dabei kaum festzustellen; eine Ausnahme stellen hierbei Carl Wilhelm Hübners "Schlesische Leinenweber" von 1844 mit ihrer unmissverständlichen Gesellschaftskritik dar.

Während die Exponate der Kunstausstellungen nur der gehobenen Bevölkerungsschicht zugänglich waren, fanden Beispiele der Pauperismusmalerei in der illustrierten Presse und im Satiremagazin weitaus größere Verbreitung. Dabei werden deutliche Unterschiede zwischen den untersuchten Blättern erkennbar, die durch "Häufigkeit und Art der Thematisierung von Armut im Tagesjournalismus" (84) Rückschlüsse auf eine bestimmte politische Ausrichtung zulassen. Hier ist es vor allem die "Leipziger Illustrirte Zeitung", in der das Sujet Armut in erster Linie "ergreifen und anrühren" (56) soll und als reiche Bebilderung einer nicht immer authentischen Berichterstattung dient. Selbst satirische Blätter wie der "Simplicissimus" oder die "Fliegenden Blätter" vermitteln kein einheitlich kritisches Bild; doch während in ersterem vor allem populäre Zeichnungen Platz finden, die teils auch auf den großen Kunstausstellungen gezeigt wurden, sind gewissermaßen "exklusiv" für die Fliegenden Blätter berühmte Zeichner wie Wilhelm Busch oder Carl Spitzweg beschäftigt. Wo man nun eher eine scharfzüngige Thematisierung wirtschaftlicher Schattenseiten vermuten möchte, bleibt das Instrument der bissigen Satire auf Bildwitze und Gedichte beschränkt und fällt mit Hinweisen auf den "betrügerische[n] Bettel" und "seichte[n] Kalauern" (78) nicht selten zu Lasten der Armen aus. So erwartete der Leserkreis der Fliegenden Blätter lediglich die Qualität eines reinen Unterhaltungsblattes und wird durch "Werbung für Luxusgüter wie [..] Haarwuchsmittel, Schlankheitsmittel, Pelze, Sekt...." charakterisiert (74). Dass hier Darstellungen von Almosen erbittenden, in Lumpen gehüllten Frauen die bürgerliche Behaglichkeit gestört hätten, mag einleuchten. Weitaus "kritischer, frecher und mutiger" (79) tritt hingegen der Simplicissimus mit seinem berühmtesten Zeichner Thomas Theodor Heine auf, wenn es um Themen der Armut geht.

Mit der Abschaffung des Sozialistengesetzes 1890 und der damit verbundenen Duldung sozialkritischer Themen in der Presse lässt sich auch eine Zunahme jener Darstellungen feststellen, die über das reine Elend hinaus Arbeits- und Obdachlosigkeit sowie die brodelnden großstädtischen Konflikte zeigen.

An dieser Stelle wird klar, dass sich gewisse Traditionen in der Motivik nicht ablegen lassen: Spitzenreiter bleibt der "Bettler und sein weibliches Pendant" (88), der sich ikonografisch allerdings mit dem Motiv des Eremiten oftmals überschneidet und damit nicht als Neuheit des 19. Jahrhunderts gewertet werden kann. Beliebt sind außerdem Themen im Umfeld des christlichen Erzählkreises, wo die Tugend der Caritas allgegenwärtig ist: "Tatsächlich wurde kein Sujet so häufig [...] gewählt wie die Verteilung der Kloster- oder Armensuppe." (124) Bei den meisten Künstlern des 19. Jahrhunderts ist die Thematisierung von Armut lediglich als Randmotiv vorhanden; nur wenige weisen eine intensive Auseinandersetzung damit auf. Dazu zählt auch der Wiener Maler Ferdinand Georg Waldmüller, der das Thema Armut jedoch stets in eine pittoresk-romantisierende Umgebung zu setzen weiß. Seine großartige Ausarbeitung von Stofflichkeit sowie virtuos eingesetzte Lichteffekte lassen auch dramatische Szenen wie eine Pfändung auf dem Land stets wie inszeniert erscheinen; Elend und Trauer erscheinen dem Betrachter nur aufgesetzt und vermögen nicht an seine Empathie zu appellieren. Hierbei ist die Beobachtung der Autorin aufschlussreich, die zwischen der expliziten Frische und Sauberkeit in den Gesichtern der Bedürftigen und ihrer seelischen Reinheit eine Parallele zieht. Das harte, entbehrungsreiche Leben wird mit Werten wie "Solidarität, Glück und Lebensfreude" (130) konnotiert und damit glorifiziert. Ein veredeltes, idealisiertes Erscheinungsbild sollte auf die charakterliche Reinheit der Porträtierten sowie die Schuldlosigkeit ihres Unglücks hinweisen. Ihnen war das Mitgefühl des Publikums gewiss.

Analog dazu wurde das Derbe, Unschöne einer Figur "auf einen verkommenen, lasterhaften Charakter zurückgeführt" (187). Ein Beispiel dafür sind die Arbeiten Max Liebermanns, denen eine explizite "Hässlichkeit der Figuren" (186) attestiert wurde. Das Urteil bezog sich dabei auf die als roh empfundenen Beschäftigungen der Protagonisten wie auch den fleckigen Auftrag dunkel-erdiger Farben. Hier wird das eigentliche Charakteristikum der Armeleutemalerei des 19. Jahrhunderts offensichtlich: Es ist das Trostlose, Deprimierende, eben so völlig "Echte", das die viel kritisierte Hässlichkeit der Darstellungen ausmacht. Das Publikum dagegen verlangte bei der "Thematisierung der Schattenseiten des Lebens [...] nach Idealisierung." (189) So manifestiert sich das Gros der deutschsprachigen Armeleutemalerei in "idealisierten, verklärten Bilder[n] der Armut", die in erster Linie "das bürgerliche Publikum anrührten und an die christliche Nächstenliebe appellierten". (184) Dies änderte sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts unter dem Einfluss der französischen Realisten, auch wenn die deutschsprachige Armeleutemalerei letztlich keine Werke in der Eindringlichkeit beispielsweise von Courbets Steinklopfern hervorbringt. Zur Jahrhundertwende 1900 widmen sich dann die drei Berliner Künstler Heinrich Zille, Käthe Kollwitz und Hans Baluschek "fast ausschließlich der Darstellung sozialen Elends" (162) und finden ihre Motive im Arbeitermilieu der deutschen Großstädte. Ihnen gelingt endlich eine Loslösung des Themas Armut von der pittoresken, narrativen, verklärenden oder sich auf ikonografische Topoi berufenden Tradition.

Carmen Flums Arbeit besticht sowohl durch die akribisch genaue Auswertung der verschiedenen Quellen sowie einen einnehmenden, eloquenten Schreibstil. Während der Lektüre auftauchende Fragen werden zugunsten der Sichtbarmachung einer roten Argumentationslinie zurückgestellt und spätestens in den beiden letzten Kapiteln zu Rezeption und Absicht der Armeleutemalerei beantwortet. Die elegante, leinengebundene Bindung und die exquisite Bildqualität machen den Band schließlich auch visuell zum Genuss.

Maximiliane Buchner