Rezension über:

Gilbert Dahan / Annie Noblesse-Rocher (éds.): L'exégèse monastique au moyen âge (XIe -XIVe siècle) (= Série Moyen Âge et Temps Modernes; 51), Paris: Institut d’Études Augustiniennes 2014, 340 S., 8 Farbabb., ISBN 978-2-85121-267-2, EUR 50,00
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Rezension von:
Ralf Lützelschwab
Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fischer
Empfohlene Zitierweise:
Ralf Lützelschwab: Rezension von: Gilbert Dahan / Annie Noblesse-Rocher (éds.): L'exégèse monastique au moyen âge (XIe -XIVe siècle), Paris: Institut d’Études Augustiniennes 2014, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 11 [15.11.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/11/26748.html


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Gilbert Dahan / Annie Noblesse-Rocher (éds.): L'exégèse monastique au moyen âge (XIe -XIVe siècle)

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Der Benediktiner Jean Leclercq widmete in seinem noch immer lesenswerten Werk "L'amour des lettres et le désir de Dieu" (1957) einige bemerkenswerte Seiten dem Phänomen des Bibelstudiums im Kloster. Ihm zufolge stammte der Großteil der exegetischen Literaturproduktion in der Zeit zwischen dem 9. und dem 13. Jahrhundert aus den Klöstern selbst. Mit seiner These von der Existenz einer genuin "monastischen Theologie" hat sich Leclercq nicht nur Freunde gemacht, sondern im Gegenteil eine große Forschungskontroverse ausgelöst, die zwar noch immer nicht ganz zum Erliegen gekommen ist, in deren Verlauf der Begriff der monastischen Theologie jedoch etwas unter die Räder gekommen ist. So öffnet man vorliegenden Sammelband mit einiger Spannung. Gab es eine genuin monastische Exegese? Und beantwortet man diese Frage mit einem "Ja": in welchem Verhältnis stand sie zu Formen der Exegese, wie sie in den Schulen und Universitäten betrieben wurde? Gab es Austauschbeziehungen oder sind die schriftlichen Ergebnisse monastischer Exegese als geschlossene Quellengruppe anzusehen, die sich, wenn überhaupt, dann nur widerwillig Einflüssen von außen öffnete?

Vorliegender Sammelband dokumentiert die Vorträge eines internationalen Kolloquiums "L'exégèse monastique de la Bible en Occident, XIe-XIVe siècle", das 2007 in Straßburg stattfand. Auch wenn darin - so kündigt es der Titel an - eine vier Jahrhunderte währende Zeitspanne behandelt werden soll, wird im Verlauf der Lektüre schnell deutlich, dass insbesondere das 12. Jahrhundert klar favorisiert wird.

Angesichts von sieben Jahren Vorlaufzeit sollte doch - so meint man - ein Band entstanden sein, der nicht nur den status quo der aktuellen Forschung abbildet, sondern auch eine Fülle von miteinander verbundenen, ja vielleicht sogar aufeinander Bezug nehmenden Beiträgen präsentiert, die schließlich ein kohärentes Ganzes bilden. Dies ist leider nicht der Fall, erlebt doch bei einigen (zugegeben: wenigen) Beiträgen der mit heißer Nadel gestrickte Vortragstext eine unrühmliche Wiederauferstehung. Das ist umso ärgerlicher, als viele der 13, in drei Rubriken gegliederten Aufsätze (I. Les Bibles des scriptoria; II. Une herméneutique monastique?; III. Des auteurs) von exzeptioneller Qualität sind - mit dem Beitrag des Mitherausgebers Gilbert Dahan an der Spitze (Herméneutique et procédures de l'exégèse monastique, 115-142).

Seine Aufgabe begreift Dahan - völlig zu Recht - als "tâche redoutable" (115), ist das Quellencorpus, das er seiner Untersuchung zugrunde legt, Bibelkommentare benediktinischer, zisterziensischer und kartäusischer Provenienz (11.-14. Jahrhundert), doch ausgesprochen umfangreich und nicht in allen Fällen editorisch erschlossen. Dahan fragt danach, auf welchen hermeneutischen Voraussetzungen die Exegese der Mönche aufbaute, um danach die Hauptlinien dieser Exegese nachzuzeichnen - es geht also um (rhetorische) Prozeduren und Techniken, die zum einen aus den wenigen theoretischen Reflexionen eines Guibert de Nogent in seinem Liber quo ordine sermo fieri debeat oder eines Rainaud de Saint-Éloi im Prolog zu seinem Pentateuchkommentar erschlossen, zum anderen aus den Bibelkommentaren selbst extrahiert werden. Deutlich wird, wie zentral die Vorstellung einer Inspiriertheit des biblischen Textes war, wodurch nicht nur die Pluralität der Lesarten überhaupt, sondern auch das Prinzip einer "unendlichen Interpretation" möglich wurde. Gilbert von Stanford fasst dies in ein ansprechendes Bild: so wie die Blumen auf einer Wiese auch dann noch blühen, wenn eine Gruppe Kinder auf dieser Wiese gespielt und einige Blumen gepflückt hat, so unerschöpflich ist der Inhalt des Hohelieds, der mit einem Flusslauf, dem Sonnenlicht oder eben den Wiesenblumen verglichen werden kann. Die Stoßrichtung ist klar: man wird stets neue Interpretationen finden. Worin besteht nun das Besondere im monastischen Umgang mit dem Bibeltext? Dahan zufolge konkretisiert sich dieser Umgang in einer existentiellen, allumfassenden, symbolischen Lektüre ("lecture existentielle, totalisante, symbolique", 119). Das Bibelstudium hat für den Mönch nicht nur Auswirkung auf seine Lebensführung, ja sein innerstes Selbst, sondern umfasst die Gesamtheit des biblischen Textes - Réginald Grégoire demonstriert dies eindrücklich am Beispiel des Bruno von Segni (L'exégèse de Bruno de Segni, 229-249) - und verweist in seiner symbolischen Komponente auf ein Durchdringen von Heiliger Schrift und Welt. Grammatikalische oder inhaltliche Varianten unterschiedlicher Bibelversionen werden als sinnbehaftet angesehen: da der biblische Text selbst nach Eliminierung einfacher Kopistenfehler noch immer Inkohärenzen und Widersprüche aufweist, müssen diese mit einer Methodik, die verdächtig dem nahe kommt, was heute unter der Rubrik "Textkritik" verbucht wird, aufgelöst werden. Von zentraler Bedeutung ist auch das, was Dahan den "saut herméneutique" (132) nennt, der Übergang vom sensus historicus hin zur spirituellen Sinnebene. Da eine monastische Interpretation in den allermeisten Fällen auf das Leben des Mönchs - individuell oder in Gemeinschaft - abzielt, ist eine Sonderstellung des sensus tropologicus nicht von der Hand zu weisen. Für Dahan besteht kein Zweifel daran, dass wir es im klösterlichen Kontext mit einer "véritable exégèse" (142) zu tun haben, ob diese Exegese aber das Label "monastische Exegese" verdient, bleibt bewusst etwas in der Schwebe ("exégèse monastique peut-être aussi", 142). Diese Vorsicht ist in der Tat angebracht, unterscheiden sich bibelexegetische Werke des Säkularklerus doch häufiger kaum von denjenigen monastischer Provenienz.

Dieses caveat findet sich auch in nahezu allen weiteren Beträgen formuliert, insbesondere in denjenigen, die einzelnen Autoren gewidmet sind. Die mit großer Akribie herausgearbeiteten Spezifika besitzen nämlich stets nur für den jeweiligen Autor Gültigkeit. Wenn Guibert de Nogent oder Guilbert of Stanford ihre Bevorzugung des sensus moralis unterstreichen (Gomes, João: Le cas singulier de l'exégèse de Guibert de Nogent, 196-208, hier 198f.; Guglielmetti, Rossana: Il commento al Cantico dei Cantici di Gilberto di Stanford, 289-316, hier 297f.) oder mit Blick auf den Proverbienkommentar des Benediktiners Guillaume de Flay ausgesagt wird "[...] le sens tropologique est une mise en action de ce sens spirituel" (Prévot, Brigitte: Le commentaire du livre des Proverbes de Guillaume de Flay, 209-228, hier 218), dann stützen diese Aussagen zwar die These von der zentralen Bedeutung des sensus moralis, rufen jedoch gleichzeitig zur Vorsicht auf: Mönche verstehen sich aufs Beste darauf, unterschiedliche geistige Sinnebenen miteinander zu verbinden und nicht künstlich das zu trennen, was (eigentlich doch) zusammen gehört.

Zum Verhältnis von Bibelexegese und Bild steuert Alessia Trivellone (Images et exégèse monastique dans la Bible d'Étienne Harding, 85-111) Bemerkenswertes bei. Mit guten Argumenten plädiert sie dafür, Stephen Harding nicht nur als "master-mind" hinter der Herstellung der bis heute seinen Namen tragenden Bibel zu sehen, sondern ihm eine maßgebliche, aktive Rolle bei der Ausführung des reichen Bildprogramms zuzuweisen. Die Miniaturen, in denen sich auch Mönche verewigt finden, werden dabei als "forme de commentaire du Livre" (85) verstanden, als " savantes constructions iconogaphiques, oeuvre d'un esprit fin et curieux, qui s'intéresse aux questions les plus brûlantes de son temps" (87). Stephen Harding, der innerhalb der historischen Forschung noch immer seltsam blass bleibt, gewinnt hier deutlich an Profil. Dass die Aussagen Trivellones anhand hervorragender Bildreproduktionen überprüft werden können, ist als weiterer Pluspunkt zu werten und wird deshalb hervorgehoben, weil daneben leider Beiträge zu finden sind, in denen Bildinterpretationen zwar breiten Raum einnehmen, in denen auf einen Abdruck dieser Bilder jedoch verzichtet wurde.

Die selektive Lektüre dieses durch unterschiedliche Indices erschlossenen Bandes (Bibelzitate; Handschriften; antike und mittelalterliche Autoren; moderne und zeitgenössische Autoren; ein Sachindex fehlt leider) führt zu großem Erkenntnisgewinn, lässt einen nun aber endgültig zögern, die eingangs gestellte Frage nach der Existenz einer "monastischen Exegese" mit einem klaren Ja oder Nein zu beantworten.

Ralf Lützelschwab