Sigrid Weigel: Grammatologie der Bilder (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft; 1889), Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 2015, 487 S., ISBN 978-3-518-29489-5, EUR 22,00
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Die "materielle und politische Natur der Bilder im digitalen Zeitalter und einer globalisierten Welt" [1] ist Thema des diesjährigen Deutschen Pavillons der 56. Kunst Biennale in Venedig, welches das aktuelle Interesse der Bildenden Kunst an der Bildwissenschaft widerspiegelt. Wenn man sich fragt, wie Bilder entstehen und welche Rolle sie spielen, rücken auch schnell Fragen zur Erlaubnis von Abbildungen und das Bild als Angriffsfläche, wie zum Beispiel im Zuge des Bilderstreits um die französische Satirezeitschrift "Charlie Hebdo", in den Vordergrund. Aber nicht nur aus aktueller kunsthistorischer Perspektive ist die Entstehung von Bildern ein wichtiges Phänomen. Es werden außerdem Assoziationen zu historischen Ereignissen wie dem Byzantinischem Bilderstreit im 8. Jahrhundert und dem reformatorischen Bildersturm des 16. Jahrhunderts geweckt.
Sigrid Weigel geht in ihrer neuen Publikation Grammatologie der Bilder auf geschichtliche wie aktuelle Begebenheiten der Bilderwelt gleichermaßen ein. Es gelingt Weigel, diese Welten gleichwertig aufzuarbeiten und miteinander zu verknüpfen. Auf rund 500 Seiten wird das Thema der Bildentstehung diskutiert. Ein großes Themenspektrum wird aufgezeigt, das auf wichtige Namen und verschiedene Forschungsbereiche eingeht. Das Spektrum ist so weit gefächert, wie die Forschung der Bildwissenschaften selbst.
Die Kapitel sind in abwechselnder Reihenfolge angelegt. Die ungeraden Kapitel gehen auf thematische Untersuchungen ein, während die geraden Kapitel "[...] systematisch-theoretische Erörterungen bildtheoretischer und -historischer Fragen" (26) sind. Auf diese Weise ergänzen sich die unterschiedlichen Themen und Inhalte gut und das Lesen gestaltet sich abwechslungsreich.
Diese zehn Kapitel werden von dem detaillierten Inhaltsverzeichnis eingeführt, was bei der Orientierung des breiten Themenfächers hilfreich ist. Es lohnt sich dabei einen Blick hinter die allgemein formulierten Titel zu werfen, wohinter sich teilweise sehr detaillierte Besprechungen und Diskussionen verbergen.
Das Namenregister ist eine wertvolle Hilfe, um sich einen Überblick zu verschaffen, für welche Forschungsbereiche die jeweiligen Personen wichtig waren: Walter Benjamin, Gottfried Boehm, Georges Didi-Huberman, Sigmund Freud, Heinrich Heine, wie auch Jesus Christus und Maria Mutter Jesu sind nur einige der Namen, die durch das ganze Buch hinweg eine zentrale Rolle spielen und immer wieder von Weigel herangezogen werden, um sie auf die Bildwissenschaften zu beziehen.
Inhaltlich geht die Publikation durchweg auf das Medium Bild und die Befragung dieser Kategorie ein. Die Fragen nach der Bildentstehung und den Herkunftsgebieten stehen im Vordergrund: "Es soll also um Verfahren des In-Erscheinung-Tretens gehen." (11) schreibt Weigel zu Beginn und bricht das komplexe Thema auf den folgenden Seiten noch einmal herunter: "Die Grammatologie der Bilder zielt, indem sie nach den impliziten bild- und kulturgeschichtlichen Voraussetzungen unterschiedlicher Praktiken der Bildgebung fragt, auf eine Erkenntniskritik von Bildern. [...] Die hier vorgeschlagene Grammatologie der Bilder profitiert von beiden Spielarten der Bildwissenschaft: als Versuch, die Konstellation der Bildgebung theoretisch zu reflektieren und an thematischen Fallstudien zu spezifischen Bildern im Austausch zwischen Wissenschaft, Religionsgeschichte und Kunst in historischer Perspektive zu erörtern." (16)
Weigel bezieht sich offenkundig auf Derridas Grammatologie, wenn sie zu Beginn feststellt, dass "es gilt, die Spuren vor den existierenden Bildern zu denken [..]." (9) Es geht Weigel aber nicht um einen Anschluss an Derridas Bildtheorie: "Vielmehr geht es darum, das Derridasche Konzept der Spur für die Frage nach der Genese von Bildern und nach dem Anderen des Bildes zu nutzen: die Spur als das Andere des Bildes. Denn die Frage nach der 'Spur vor dem Seienden' ist für die Bildgebung besonders relevant, nicht nur, weil sie die Aufmerksamkeit auf das Vorausgehende lenkt, sondern auch, weil damit zudem jener Registerwechsel in den Blick gerät, der dabei stets am Werk ist." (30)
Wie die Bildwissenschaft selbst, bedient sich auch das Buch von Sigrid Weigel unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen, wie der Philosophie, Soziologie, Kultur-, Kunst-, und Religionswissenschaft, um der Frage nach dem Bild nachzugehen. Verankert in historischer wie aktueller Bildforschung werden die hierfür zentralen Personen, wie Aby Warburg, Erwin Panofsky, Hans Belting, Horst Bredekamp im Buch behandelt. Die Publikation wird den wissenschaftlichen Anforderungen gerecht, auch wenn sie auf Denkanstöße von Clement Greenberg oder Oliver Grau verzichtet. Weigel zeigt auf, das eine Definition von Bildwissenschaften nicht eindimensional gelingen kann. Sie ist vielfältig und verbreitet in verschiedenen Wissenschaften und Bildformen: zweidimensional im Medium von Tafel und Karte, dreidimensional im virtuellen Raum.
In Bezug auf die Herangehensweise der Thematik überzeugen besonders die Kapitel Gesichter - Zwischen Spur und Bild, Codierung und Vermessung (70-130) sowie Infame Bilder - Entstellung der Physiognomie und die zwei Körper der Karikatur (232-284). Im zuerst genannten Kapitel wirft Weigel die Kognitionswissenschaft und dessen neuere Techniken wie dem brain scanning, bei dem Hirnaktivitäten kartografiert werden, auf und erfragt somit das wiedergekehrte Interesse für Persönlichkeitsforschung, welches uns heutzutage dank der entwickelten Technik viel genauere Abbildungen aufzeigen kann (70). Die Hirnkarten sind aber digitale Bilder von Daten und Funktionen und weniger von Begebenheiten (83), was eine ganz andere Art der Bildforschung aufweist. Im Kapitel über Karikaturen geht Weigel die Frage nach Bildern und der mit ihnen verbundenen Meinungsfreiheit an und stellt fest, dass Karikaturen erst geschätzt werden, "[...], wenn sie erkaltet oder abgestanden sind." (252) Karikaturen sind polarisierende Träger, die in der Gegenwart schnell für eine gespaltete Masse stehen; im Rückblick sind sie aber meist prägnante Zusammenfassungen einer bestimmten Epoche und werden somit im Nachklang zu wichtigeren Artefakten als zur Zeit ihrer Entstehung.
Mit der Ausdehnung in die unterschiedlichen Forschungsfelder gelingt es der Verfasserin, vielen Bereichen gerecht zu werden, ohne an inhaltlicher Tiefe zu verlieren. Ein abschließendes Kapitel, das an die ausführlichen einleitenden Gedanken anknüpft und Antworten auf diese anbietet, wäre wünschenswert, um zum Beispiel die von ihr gestellte "Frage nach der 'Spur vor dem Seienden'" (30) final zu beantworten. Das Abwechseln der Kapitel sowie das inhaltliche Vor- und Zurückverweisen innerhalb des ganzen Buches schafft eine Verbindung und macht das Buch zum Nachschlagewerk des eigenen Themas. [2]
Insgesamt gelingt Sigrid Weigel ein sehr umfangreiches Werk mit hohem wissenschaftlichem Anspruch. Es werden viele detaillierte Aspekte aus der Geschichte, Philosophie und Kunstgeschichte genannt, sodass nicht alle an dieser Stelle vollständig aufgezählt, geschweige denn gewürdigt werden können.
Anmerkungen:
[1] Pressemitteilung, Deutscher Pavillon, Venedig Kunst Biennale2015, http://www.deutscher-pavillon.org/2015/wp-content/uploads/2014/12/PM_Praesentation_Kuenstler_und_Konzept.pdf (28.07.2015).
[2] Vgl. die Rückbezüge auf den Seiten 158 (zu 138), 152 (zu Kapitel 2.4) sowie die Vorschau auf Seite 148 zu Kapitel 6.
Sally Müller