David M. Perry: Sacred plunder. Venice and the aftermath of the Fourth Crusade, University Park, PA: The Pennsylvania State University Press 2015, XIII + 233 S., 3 Kt., 6 s/w-Abb., ISBN 978-0-271-06507-6, USD 69,95
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Nach der Einnahme Konstantinopels durch ein von den Venezianern umgeleitetes Kreuzfahrerheer am 12. April 1204 begannen Plünderungen großen Stils. Viele der dabei erbeuteten Gegenstände traten ihren Weg gen Westen an und füllten die Schatzkammern von weltlichen und geistlichen Würdenträgern. Reliquien gehörten dazu: der kaiserliche Palast in Konstantinopel verfügte vor 1204 über die wohl exklusivste Reliquiensammlung der Christenheit - insbesondere die zahlreichen Passionsreliquien weckten Begehrlichkeiten -, aber auch Klöster und Kirchen innerhalb des Stadtgebietes besaßen hochkarätiges Heiltum, dessen sich die Kreuzfahrer gerne annahmen. Über die Verlagerung dieser Reliquien sind wir aufgrund einiger Translationsberichte recht gut informiert. Vorliegende Monografie von David M. Perry, associate professor an der Dominican University, geht zunächst der Entstehung, vor allem aber dem kulturellen Einfluss dieser Berichte nach und fragt dann nach den konkreten Auswirkungen, die der Zustrom von Reliquien auf das Selbstverständnis der Venezianer ausübte. Gegliedert in drei große Abschnitte (I. "Contexts"; II. "Texts"; III. "Outcomes") mit insgesamt sechs Kapiteln und einem Epilog wird dem Phänomen der Umformung von "potentiality into actuality" nachgegangen, denn klar war: "A relic needed a story" (3).
Besondere Beachtung wird der Rolle Papst Innocenz' III. geschenkt, der die Plünderungen insgesamt zwar scharf verurteilte, schließlich aber aus dem sündhaften Verhalten der Kreuzfahrer einen geistlichen (und politischen) Mehrwert generierte.
Die neun hagiografischen Schriften, die im zweiten Teil besprochen werden, formulieren unterschiedliche Vorstellungen davon, wie Reliquientransfers für die Nachwelt festzuhalten und wie darin das Verhältnis der unterschiedlichen Translatoren zum IV. Kreuzzug und den Plünderungen darzustellen und zu bewerten sind. Dabei weist Perry die Texte zwei unterschiedlichen Gruppen zu. Tauchen in den "translation only"-Texten Details zum IV. Kreuzzug nicht auf, erscheinen darin die Translationen als von einem Bischof bzw. Kardinal autorisierte Akte in Übereinstimmung mit den Vorgaben des kanonischen Rechts, präsentieren sich die Texte der zweiten "pious theft"-Gruppe als Berichte, in denen die unautorisierte Natur der Reliquienverlagerungen thematisiert wird. Die Stoßrichtung ist deutlich: durch die Minimierung menschlicher Autorität wird die Botschaft dieser Berichte universalisiert. Hier wird gerade das gefeiert und ins rechte Licht gerückt, was vom Papsttum so vehement verurteilt worden war.
In den Blick geraten neben den Gesta episcoporum Halberstadensium oder der Historia Constantinopolitana des Gunther von Pairis auch weniger bekannte Texte wie die Beschreibungen der vom päpstlichen Legaten Peter von Capua vorgenommenen Transfers von Heiltum in Städte wie Gaeta oder Amalfi. Hinter der Translatio corporis Beati Symonensis Prophete de Constantinopoli Venetias anno 1203 oder der Translatio corporis Beatissimi Pauli Marytris verbergen sich Texte venezianischer Provenienz, die den Ausgangspunkt für Überlegungen zur identitätsstiftenden und sozial-politische Strukturen verändernden Kraft von Reliquientransfers bilden. Ausgehend von der Translatio Beati Symonensis gelingt es Perry, den Blick auf Bevölkerungsschichten zu lenken, die in den erhaltenen Quellen nur sehr selten an prominenter Stelle agieren: einfache Stadtbewohner, Angehörige der venezianischen Pfarrei S. Simon, die am Bosporus ihre Chance ergreifen, den Leib des Hl. Simon stehlen und an den Rialto überführen. Deutlich wird eine eng miteinander verwobene Trias aus Devotion gegenüber dem Heiligen, der Pfarrei und Venedig. Der Wandel Venedigs von einer Republik von Kaufleuten hin zu einem imperiale Vorstellungen vermittelnden Gemeinwesen beruhte eben nicht nur auf den Ideen einer eng umgrenzten Elite, sondern beinhaltete auch das Engagement einfacher Bürger, die ihre eigenen bescheidenen, auf die nähere Umgebung der Nachbarschaft bzw. der Pfarrei abgestimmten Mythen entwarfen und propagierten, damit aber gleichzeitig dem großen Ganzen dienten.
Perry liebt die scharfe These, die zwar nicht immer auf einer wirklich tragfähigen Quellenbasis beruht, aber durchgehend anregend ist und ohne Zweifel weitere Forschungen nach sich ziehen dürfte. Ob man in Venedig die Dornenkrone 1238 deshalb an den französischen König Ludwig IX. weiterreichte, weil sie sich nicht in die großen Linien venezianischer Reliquienpolitik einfügte, die darauf setzte, bestehendes Heiltum zu stärken, nicht zu überstrahlen oder gar zu ersetzen, kann diskutiert werden. Ob die Translatio Pauli wirklich wie angedeutet "a form of translatio imperii" beinhaltete, sei dahingestellt: immerhin wird in ihr aus einem völlig unspektakulären Faktum - der Verlagerung einer Reliquie von einem Tochter- in ein Mutterkloster - ein spektakulärer Reliquienraub, durch den verdeutlicht werden sollte, dass der Heilige seine Heimat nicht mehr im imperialen Konstantinopel, sondern im (imperialen?) Venedig erblickte. Und dass Innocenz III. am 30. November 1215 anlässlich des Abschlusses des IV. Lateranum den versammelten Konzilsvätern tatsächlich "his own story of pious theft" (183) präsentierte, könnte Widerspruch auslösen. Die Frage aber ist berechtigt: weshalb verwendete der Papst beim Schlusssegen eine Kreuzesreliquie, die neu aus Konstantinopel erworben worden war? Hätten ihm nicht Kreuzespartikel zur Verfügung gestanden, deren Anciennität (und Authentizität) außer Zweifel standen und deren Provenienzen nicht annähernd so anrüchig waren?
Perrys Arbeit ist außerordentlich gut lesbar: ganz offensichtlich liebt der Autor nicht nur steile Thesen, sondern auch treffende Formulierungen. Dass sich die Fußnoten deshalb als Endnoten präsentieren und somit der Lesefluss nicht gestört wird, liegt wohl in der Natur der Sache. Kleinere Unsicherheiten im Gebrauch des Lateinischen fallen kaum ins Gewicht, einzig die Tatsache, dass "Gesta" konsequent als Singular behandelt werden, stört. Und die Translatio caput Beati Theodori (92) ist sicherlich als Translatio capitis zu verstehen. Leider wird in der Bibliografie der in den vergangenen Jahren innerhalb der angelsächsischen Forschung immer stärker werdende Trend zur Vernachlässigung von Forschungsleistungen fortgesetzt, die sich in fremder Zunge präsentieren. Gerade mit Blick auf Venedig hat die deutsche Forschung Maßgebliches geleistet: Perrys Literaturliste hingegen verdeutlicht, dass dieser Beitrag zumindest an der amerikanischen Dominican University als vernachlässigbar eingestuft wird. Und Mary Carruthers war sicherlich nicht die erste, die das "memoria-Konzept" innerhalb der Mittelalterlichen Geschichte salonfähig gemacht hat.
Summa summarum: eine anregende Untersuchung, die sich streckenweise essayistisch präsentiert, meinungsstark argumentiert und so manche bedenkenswerte These formuliert. Aber die Erkenntnis, dass extensive Lektüre von Sekundärliteratur dazu beitragen könnte, so manche "Neuentdeckung" nicht überzubewerten, gilt auch hier.
Ralf Lützelschwab