Peter Hübner: Arbeit, Arbeiter und Technik in der DDR 1971 bis 1989. Zwischen Fordismus und digitaler Revolution (= Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts; Bd. 15), Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2014, 744 S., 94 s/w-Abb., ISBN 978-3-8012-5037-9, EUR 78,00
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Die DDR-Gesellschaft war bekanntlich eine besonders stark ausgeprägte Arbeitsgesellschaft. In der Forschung besteht auch Einvernehmen darüber, dass die DDR bis zu ihrem Untergang in den Strukturen einer alternden Industriegesellschaft verhaftet blieb. Das zeigt etwa die Bevorzugung der Grundstoff- und Schwerindustrie bei der Allokation der Produktionsfaktoren, die prägende Wirkung auf die Beschäftigtenstruktur hatte. Bei genauerer Betrachtung ergibt sich ein höchst widersprüchliches Gesamtbild: Einerseits stieg zwar die Zahl der ostdeutschen Erwerbstätigen kontinuierlich an, was unter anderem auf die permanente Arbeitskräfteknappheit sowie auf den Umstand zurückzuführen war, dass der Zugang zu Leistungen der Sozialfürsorge und der bis 1977 formal bestehenden Arbeitslosenversicherung erheblich erschwert wurde. Andererseits ist für die DDR bereits in den 1950er und 1960er Jahren ein Wandel in der Erwerbsstruktur zu beobachten, der aber nur teilweise Parallelen zur Entwicklung in der Bundesrepublik aufwies. Während es auch in der DDR zum Abbau des primären Sektors kam, wuchs die Zahl der Beschäftigten im sekundären Sektor. Dabei schlug insbesondere der Beschäftigtenanstieg in der Industrie zu Buche. Es gehörte zu den zentralen Zielvorgaben der SED, die Gruppe der Arbeiter und Angestellten im Industriesektor, auf denen angeblich die Herrschaft der führenden Partei beruhte, stetig zu erhöhen. Dies wurde beispielsweise durch die Auflösung bzw. Zusammenlegung zahlreicher traditioneller Berufe erreicht, die in den offiziellen Statistiken nicht mehr auftauchten. Dieser Transformationsprozess war bis Anfang der 1970er Jahre weitgehend abgeschlossen. Nachdem Christoph Kleßmann seine Untersuchung über die Arbeiter in der Ära Ulbricht 2007 veröffentlicht hat, liegt nun die Nachfolgestudie über die Ära Honecker aus der Feder von Peter Hübner vor, der in der Vergangenheit bereits einschlägig zur Geschichte der Arbeiter und der Sozialpolitik in der SBZ/DDR publiziert hat und ein ausgewiesener Experte der Materie ist.
Hübner legt den Schwerpunkt seiner Untersuchung etwas anders als Kleßmann, denn ihn interessieren vor allem die Folgen des globalen technischen Innovationsschubs für die ostdeutsche Arbeiterschaft, der zum Ende der Amtszeit Ulbrichts einsetzte. Während die digitale Revolution in den westlichen Industrienationen rasch zu gravierenden sozioökonomischen Veränderungen führte, schien die DDR angesichts der nach außen abgeschlossenen Planwirtschaft vor sozialen Verwerfungen gefeit zu sein. Da sich die bisherige Forschungsliteratur primär mit dem Management in der volkseigenen Wirtschaft beschäftigt habe, sei es nun an der Zeit, endlich einmal die Rolle der Arbeiter in der sogenannten wissenschaftlich-technischen Revolution systematisch zu analysieren. Dagegen seien in den vergangenen Jahren die Wirtschafts- und Sozialpolitik sowie die finale Krise der DDR-Gesellschaft "sehr ausführlich thematisiert" (13) worden. In der Studie beleuchtet der Verfasser aber durchaus auch das Verhältnis zwischen Wirtschafts- und Sozialpolitik sowie die Krise der sozialistischen Arbeitsgesellschaft. Das Werk ist chronologisch gegliedert und orientiert sich etwas uninspiriert an den SED-Parteitagen (1971, 1976, 1981, 1986) und den dort beschlossenen Fünfjahrplänen; dieser Aufbau wird durch drei Themenblöcke zur sozialen Schichtung, zum Lebensstandard und zum Arbeitsrecht unterbrochen. Den Abschluss bildet ein siebzigseitiger Beitrag von Ilko-Sascha Kowalczuk über das Ende der DDR 1989/90.
Der Band enthält zahlreiche interessante Beobachtungen und Ergebnisse. So betont Hübner gleich im ersten Kapitel, dass in der Planwirtschaft "nicht nur aus vielen Managern, sondern eben auch aus Arbeitern versierte 'Improvisateure' geworden" (102) seien. Basierend auf dem Know-how der Älteren aus der Zeit der NS-Kriegswirtschaft hätten sie gelernt, "auch holprige Investitionsprozesse und Produktionsprobleme zu bewältigen". Dieser Erfahrungsraum habe das Verhalten der Arbeiterschaft bei der Computerisierung und Automatisierung der staatssozialistischen Arbeitswelt nachhaltig geprägt. An anderer Stelle unterstreicht der Autor zu Recht die Bedeutung der Weltwirtschaftskrise von 1929 in Deutschland für die deutschen Kommunisten, die sich nach der DDR-Gründung 1949 an wichtigen Schaltstellen des ostdeutschen Staates befanden. Die SED inszenierte sich stets als führende Arbeiterpartei. Der relativ hohe Arbeiteranteil in der Bevölkerung, die große Bedeutung der Industriearbeiterschaft und die scheinbar stabilen Arbeitermilieus sollten ihren Machtanspruch legitimieren. Dabei zehrte die SED lange Zeit von diesem sorgfältig angelegten "Traditionshaushalt" (367), der allerdings im Herbst 1989 aufgebraucht war und seine Bindungskraft im Hinblick auf die Bevölkerung weitgehend eingebüßt hatte. Hübner setzt sich auch kritisch mit dem Begriff der Arbeiterklasse auseinander, der in der Sprache der SED inflationär verwendet worden sei, so dass schließlich niemand mehr genau sagen konnte, "wer denn eigentlich zu dieser Klasse gehörte" (235). Die bewusst herbeigeführte Unschärfe von Begrifflichkeiten habe letztlich dazu geführt, dass die statistische Erfassung der DDR-Erwerbsbevölkerung immer fragwürdiger und damit für die Wirtschafts- und Gesellschaftsplaner in Ost-Berlin immer weniger brauchbar wurde. Dennoch hielt die DDR am Arbeiter-Angestellten-Unterschied, der in Deutschland besonders scharf ausgeprägt war, in manchen Bereichen weiter fest.
Nach der Lektüre des Bandes drängen sich jedoch einige grundsätzliche Fragen auf: Erstens vermisst man als Leser einen durchgängig erkennbaren roten Faden. Hübners Studie bietet zwar - wie bereits erwähnt - einen Strauß an interessanten Einzelergebnissen, die jedoch zu keinem Gesamtbild zusammengefügt werden. Etwas ernüchternd ist zweitens die Quintessenz am Ende des Buches: "Im Bemühen, die Geschichte von Arbeit und Arbeitern in der späten DDR zu verstehen, sieht man sich über kurz oder lang mit der Tatsache konfrontiert, dass da erstaunlich wenig passiert" (529). Und weiter heißt es: "Die 1970er und 1980er Jahre hindurch schleppt sich diese Geschichte hin." Nun ist es zweifellos nicht die Aufgabe des Historikers, Qualitäten eines Entertainers zu entfalten, um die Relevanz seines Forschungsgegenstandes deutlich zu machen. Es stellt sich aber schon die Frage, wieso der Arbeiterstaat DDR 1989/90 so schnell zusammenbrechen konnte. Die Antwort Hübners darauf befriedigt nicht sonderlich: "Zum Schluss aber, innerhalb weniger Wochen, löst sich der Handlungsrahmen auf, die Akteure fallen aus ihrer Rolle, suchen nach neuer Orientierung - oder lassen das Ganze über sich ergehen." Drittens vermag die Schwerpunktsetzung auf die "Wissenschaftlich-technische Revolution" nicht richtig zu überzeugen. Wie können die Folgen der technischen Revolution (Computer, Mikroelektronik, Automatisierung von Produktionsabläufen) auf die Arbeiterschaft untersucht werden, wenn die digitale Revolution in der DDR über erste Ansätze nicht hinauskam? Schließlich hat der ostdeutsche Teilstaat den damit auch zusammenhängenden Sprung zur modernen Dienstleistungsgesellschaft nicht vollziehen können und den Anschluss an die rasante Entwicklung in Westeuropa, Nordamerika und Japan endgültig verloren. Wenn man die Gesamtkomposition des Bandes betrachtet, fällt viertens der Beitrag von Ilko-Sascha Kowalczuk völlig aus dem Rahmen, der sich in erster Linie mit der politischen Entwicklung des Jahres 1989/90 unter besonderer Berücksichtigung der Arbeiter beschäftigt und die Grundkonzeption Hübners nicht weiter aufgreift. Hübner hat also eine interessante Studie vorgelegt, die allerdings viele Fragen offen lässt. Die Geschichte der DDR-Arbeiterschaft in der Phase des 'real existierenden Sozialismus' ist noch nicht abschließend geschrieben.
Dierk Hoffmann