Tobias Büchi: Fortifikationsliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts. Traktate deutscher Sprache im europäischen Kontext (= Studien und Texte zur Geschichte der Architekturtheorie), Basel: Schwabe 2015, 405 S., 89 Bildtafeln, ISBN 978-3-7965-3322-8, EUR 79,50
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Die Erforschung frühneuzeitlicher Festungsanlagen hat in den vergangenen Jahren einen enormen Akademisierungsschub erlebt. In diesem Zusammenhang sind beispielhaft zu nennen der Sammelband "Festungsbau" [1] und Stefan Bürgers Habilitationsschrift "Architectura Militaris". [2] Gerade zu letzterem bildet das hier vorzustellende Buch ein interessantes Komplementär. Hervorgegangen aus einer Dissertation bei Werner Oechslin und in Verbindung stehend mit einem größeren Forschungsprojekt zur Architekturtheorie im deutschsprachigen Kulturraum, unternimmt Tobias Büchi den Versuch, die Theoriebildung im Bereich des Festungsbaus anhand der Traktatliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts nachzuzeichnen. Er orientiert sich dabei weitgehend am zeitgenössisch geführten Diskurs, wie er sich in den Werken der Militärtheoretiker widerspiegelt, und setzt diesen punktuell in Verbindung mit tatsächlich gebauten Anlagen. Die gegenseitige Beeinflussung von Theorie und Praxis zieht sich wie ein roter Faden durch die Entwicklungsgeschichte des Festungsbaus. Nun ist diese Geschichte schon häufiger erzählt worden, wobei sich vor allem im 19. Jahrhundert durch Autoren wie Alexander Zastrow (1854) und Max Jähns (1889-1891) das Modell sich abwechselnder Manieren herausgebildet hat, die sich scharf voneinander abgrenzen ließen. Für die Frühphase des neuzeitlichen Festungsbaus ist dieser Ansatz jedoch kritisch zu hinterfragen, was die neuere Forschung mit Verweis auf die tatsächliche "Vielfalt der Entwicklung" auch tut. [3]
Neben einer als "Prolog" überschriebenen Einführung, einem "Epilog", den separat auf Kunstdruckpapier gedruckten Bildtafeln und einem umfangreichen Anhang, besteht der Hauptteil der Arbeit von Tobias Büchi aus sieben Kapiteln. Diese durchwandern in chronologischer Folge anhand zentraler Werke der Fortifikationsliteratur den Zeitraum vom Beginn des 16. bis zur zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Am Anfang steht die Frage des "Übergang[s] von der 'antiken' zur 'modernen' Befestigung". Den neuzeitlichen Festungsbau unterscheidet Büchi dabei in vier "Gattungen": 1. zirkuläre Befestigung; 2. anguläre (winklige) Befestigung; 2.1 Polygonalsystem; 2.2 Bastionärsystem; 2.3 Tenaillensystem (27-28). Im Zentrum dieses ersten Kapitels stehen Albrecht Dürer und Reinhard von Solms. Dürers "Befestigung der Stett, Schloss, und Flecken" von 1527 kann als erster gedruckter Traktat zum Festungsbau angesehen werden, wobei Dürer kaum praktische Erfahrung als Militärbaumeister vorweisen konnte. Ganz anders dagegen von Solms (1535/1556), der schon durch die "dialogische Form" unterstreicht, "dass die Praxis des Festungsbaus im Zentrum seiner Abhandlung steht." (45)
Das zweite Kapitel "Vom Polygonal- zum Bastionärsystem" wendet sich Francesco de' Marchi und Daniel Specklin zu. Mit Specklin begegnen wir insoweit einem wichtigen Theoretiker, als er 1589 mit seiner "Architectura von Vestungen" das erste deutschsprachige Traktat vorlegte, das sich mit der italienischen Befestigungsmanier auseinandersetzt. Seine Kenntnisse beruhten auf einer umfassenden Reisetätigkeit quer durch Europa und auf der Auseinandersetzung mit der theoretischen Literatur. Intensiv beschäftigte er sich mit Festungsentwürfen Francesco de' Marchis, die lange vor ihrer Drucklegung 1599 in Manuskriptform kursierten. Specklin kopierte sie für sich im sogenannten "Codex mathematicus" (1575). Der Straßburger Festungsbaumeister Specklin polemisiert in seinem Werk stark gegen den Einfluss italienischer Ingenieure im Festungsbau. Nicht sie allein hätten das bastionierte Festungssystem entwickelt, sondern auch zahlreiche "deutsche" Baumeister. Büchi folgt dieser Ansicht ein Stück weit und meint, die Bastion als Verteidigungsform sei nicht allein in Italien entwickelt worden, sondern dies sei ein "europäisches Ereignis" gewesen (74). Dies ist soweit richtig, eingeführt wurde aber der Bau von Bastionen nördlich der Alpen von italienischen Ingenieuren und auch Specklin baut weitgehend auf Material auf, das italienischen Ursprung hat, was er aber immer wieder zu verschleiern weiß. Dies gilt etwa für Jülich, das in der Mitte des 16. Jahrhunderts nach Entwürfen Alessandro Pasqualinis zu idealen Stadt- und Festungsanlage im Bastionärsystem ausgebaut wurde. Specklin behandelt die Zitadelle von Jülich ausführlich in seiner "Architectura von Vestungen" und nennt als entwerfenden Baumeister einen Meister Johann. Dieser ist nicht, wie von Büchi implizit vorgenommen, mit Johann Pasqualini, einem Sohn Alessandros, gleichzusetzen (56). Vielmehr handelt es sich um Johann Gardesuner, ein Bauschreiber in den Diensten Herzog Wilhelms V. von Jülich-Kleve-Berg. Die italienische Herkunft der Pasqualinis passte Specklin nicht in sein Konzept, den Einfluss aus Italien auf die Festungsbaukunst der Zeit herunterzuspielen. [4]
Das nun folgende Kapitel ist ganz Daniel Specklin und seinen drei Manieren gewidmet, wie sie Büchi vor allem aus der "Architectura von Vestungen" herausarbeitet. In diesem Zusammenhang findet nun ein begrifflicher Kurzschluss statt, den der Rezensent für höchst problematisch hält. Die Unterscheidung zwischen einem Polygonal- und einem Bastionärsystem wird gleichgesetzt mit der traditionellen Unterscheidung in eine alt- und ein neuitalienische Befestigungsmanier. Letztere ist jedoch ein Konstrukt der o.g. Literatur des 19. Jahrhunderts, wie sie zu Recht in jüngeren Publikationen abgelehnt wird. [5] Als Gewährsmann zitiert Büchi an dieser Stelle entsprechend auch Jähns, dem jedoch die hier unterstellte Ausdifferenzierung in ein Polygonal- und ein Bastionärsystem fremd ist. [6] Die "Lust" am theoretischen Diskurs in der Frühen Neuzeit darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass der zeitgenössische Festungsbau der Versuch war, eine Antwort auf den immer massiveren Einsatz von mauerbrechenden Feuerwaffen zu finden. Kategorisierungen können uns helfen, die Vielfalt baulicher Lösungen zu strukturieren, sie dürfen aber nicht den Blick auf diese selbst verstellen. [7] Die Geometrisierung von Grundrissen und die Verwendung von Bastionen waren zwei eng miteinander verwobene Elemente der "Architectura militaris", die sich in einem beständigen Entwicklungsfluss befand. Gerade davon zeugen die von Büchi sorgfältig analysierten Festungsbautraktate - in den noch folgenden vier Kapiteln sind dies u.a. die Werke von Buonaiuto Lorini, Simon Stevin, Errard de Bar-le-Duc und Wilhelm Dilich -, wenn man sie zusammen mit den realen Bauwerken und auch dem über Entwurfs- und Ideenzeichnungen nachweisbaren Diskurs betrachtet.
Der Abdruck von Auszügen aus Daniel Specklins sogenanntem "Codex mathematicus", Literaturverzeichnisse unterteilt in Primärliteratur, gedruckte Quellen und Sekundärliteratur sowie ein hilfreiches Glossar und ein umfassender Index runden das sorgfältig produzierte Buch ab, das sich Werner Oechslin zusammen mit einem der Studie vorangestellten kurzen Text über Daniele Barbaro selber zu seinem 70. Geburtstag zum Geschenk gemacht hat.
Anmerkungen:
[1] Bettina Marten / Ulrich Reinisch / Michael Korey (Hgg.): Festungsbau. Geometrie - Technologie - Sublimierung, Berlin 2012. Vgl. hierzu die Besprechung von Guido von Büren in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 9 [15.09.2013], URL: http://www.sehepunkte.de/2013/09/22326.html.
[2] Stefan Bürger: Architectura Militaris. Festungsbautraktate des 17. Jahrhunderts von Specklin bis Sturm, Berlin 2013. Vgl. hierzu die Besprechung von Guido von Büren, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 9 [15.09.2014], URL: http://www.sehepunkte.de/2014/09/24398.html.
[3] Thomas Biller: Die Wülzburg. Architekturgeschichte einer Renaissancefestung, München / Berlin 1996, 13, Anm. 27.
[4] Vgl. Guido von Büren: Bollwerke aus Papier. Daniel Specklins Ansichten und Pläne niederrheinischer Festungen aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: Insitu. Zeitschrift für Architekturgeschichte, 3 (2011), H. 1, 55-72, hier: 61.
[5] Siehe oben Anm. 3.
[6] Max Jähns: Geschichte der Kriegswissenschaften vornehmlich in Deutschland, Bd. 1, München / Leipzig 1889, 830f.
[7] So sieht der Rezensent auch keine Mängel in der Anwendung des Bastionärsystems in Jülich im Hinblick auf die unterschiedlichen Größen der Bastionen und Längen der Kurtinen bei der Stadtbefestigung und bei der Zitadelle (56, Anm. 22). Die fünfeckige Stadt ließ sich mit kleineren Bastionen genauso effektiv verteidigen, wie die vierbastionäre Zitadelle, die zudem als gleichzeitiger Sitz des Fürsten den architektonischen Höhepunkt der nach 1547 vollständig neu geschaffenen Stadtgestalt bildete.
Guido von Büren