Rezension über:

Marie Sophie Graf: Die Inszenierung der Neuen Armut im sozialpolitischen Repertoire von SPD und Grünen 1983-1987 (= Moderne Geschichte und Politik; Bd. 27), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2015, 204 S., ISBN 978-3-631-65509-2, EUR 49,95
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Rezension von:
Sarah Haßdenteufel
Historisches Seminar, Goethe-Universität, Frankfurt/M.
Redaktionelle Betreuung:
Winfried Süß
Empfohlene Zitierweise:
Sarah Haßdenteufel: Rezension von: Marie Sophie Graf: Die Inszenierung der Neuen Armut im sozialpolitischen Repertoire von SPD und Grünen 1983-1987, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2015, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 1 [15.01.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/01/27458.html


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Marie Sophie Graf: Die Inszenierung der Neuen Armut im sozialpolitischen Repertoire von SPD und Grünen 1983-1987

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Eine umfassende Beschäftigung der zeithistorischen Forschung mit dem Thema Armut steht bisher noch aus. Einzelne Publikationen haben in den letzten Jahren jedoch dazu beigetragen, Aspekte dieses Themas zu erforschen. Auch die Studie von Marie Sophie Graf trägt dazu bei, einen Bereich dieses Themenkomplexes auszuleuchten, nämlich die diskursive Verarbeitung von Armut. In ihrer Studie analysiert Graf die Debatte um die sogenannte Neue Armut bei den Oppositionsparteien SPD und GRÜNEN zwischen 1983 und 1987.

Als Quellengrundlage stützt sich die Arbeit hauptsächlich auf publizierte Dokumente wie Bundestagsdrucksachen, Publikationen der beiden ausgewählten Parteien zum Thema sowie Presseerzeugnisse. Archivbestände aus den Archiven beider Parteien ergänzen diese publizierten Quellen.

Für die Definition von Armut existiert eine Vielzahl verschiedener Ansätze. Die Autorin selbst spricht sich für ein sozialkonstruktivistisches Verständnis von Armut im Sinne Georg Simmels aus, nach dem der Arme nicht durch ein bestimmtes Maß von Mangel definiert ist, sondern durch die Unterstützung, die die Gesellschaft ihm faktisch zukommen lässt oder zumindest theoretisch zuspricht. Dieses konstruktivistische Verständnis treibt Graf aber nicht so weit, dass sie die Debatten losgelöst von jeglicher gesellschaftlicher Realität versteht. Der Analyse vorangestellt hat sie daher ein Kapitel, das die verschiedenen Definitionen und Messkonzepte für Armut diskutiert und abschließend auch den Begriff der Neuen Armut nach seinem empirischen Gehalt befragt.

Im anschließenden Hauptteil fragt die Autorin danach, wie diese Problemlagen und die Existenz von Armut in der Bundesrepublik generell von den Oppositionsparteien aufgegriffen wurden. Sie befasst sich dabei zunächst mit der SPD und anschließend mit den GRÜNEN. Dabei arbeitet sie für beide Parteien die gleichen Fragen ab. Zunächst stehen die Armutsbegriffe und Armutsdefinitionen der Parteien im Fokus. Verbunden mit diesem Aspekt ist auch die Frage, welche gesellschaftlichen Gruppen die Parteien überhaupt als Arme bezeichneten und ins Zentrum ihres Interesses stellten. Anschließend geht der Blick auf die armutspolitischen Vorstellungen und Strategien der Parteien. Graf fragt ebenfalls nach den Akteuren der Debatte. Sie arbeitet heraus, welche Persönlichkeiten sich innerhalb der Parteien besonders für Arme engagierten und fragt, welche Gruppen außerhalb der Parteien, wie beispielsweise Verbände und Gewerkschaften, mit den Parteien zu diesem Thema kooperierten. Abschließend skizziert sie das mediale Echo dieser Debatten.

Dabei arbeitet Graf zahlreiche Unterschiede zwischen beiden Parteien heraus. Gemeinsam war SPD und GRÜNEN in dieser Zeit, dass beide Parteien sich die Neue Armut als Thema zu eigen machten und es in Bundestagsdebatten und auch in den Wahlkämpfen thematisierten. Indes taten sie dies in unterschiedlicher Intensität: während die GRÜNEN sich mit ihren parlamentarischen Initiativen zur Armutsfrage profilierten, blieben die Sozialdemokraten deutlich zurückhaltender. Auch inhaltliche Unterschiede zwischen beiden Parteien und ihrer Lesart der Armutsfrage treten deutlich hervor. So verhandelte die SPD in ihren Debatten um Armut vor allem die Situation der Arbeitslosen und skizzierte das idealtypische Bild eines Armen als das eines Familienvaters, der im Zuge des Wandels der industriellen Produktion seinen Arbeitsplatz verloren hatte. Im Gegensatz zu diesem traditionellen Armutsbild diskutierten die GRÜNEN unter dem Stichwort der "Randgruppen" die Situationen von alten Menschen, Frauen, Ausländern, Behinderten und Obdachlosen und reflektierten dabei auch die Erosion herkömmlicher Familienmodelle und die Entstehung neuer Formen des Zusammenlebens. Entsprechend unterschiedlich waren folglich auch die Strategien, die beide Parteien zur Armutsbekämpfung vorschlugen. Die Vorschläge der Sozialdemokraten betrafen dabei vorrangig den Arbeitsmarkt: die Einführung zusätzlicher Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und eines zweiten Arbeitsmarktes gehörten dazu. Auch die Reform der Sozialhilferegelungen stand auf der Liste ihrer Forderungen, jedoch gingen sie mit ihren Vorschlägen dabei nicht so weit wie die GRÜNEN. Denn letztere machten sich für die Einführung einer garantierten Grundsicherung stark, die letztlich einen fundamentalen Umbau des deutschen Sozialstaats bedeutet hätte. Letzteres wollte die SPD keineswegs mittragen.

Welche neuen Erkenntnisse gewinnt die historische Armutsforschung durch die Studie von Marie Sophie Graf? Dass die Armutsfrage in der alten Bundesrepublik insgesamt ein klassisches Oppositionsanliegen darstellte, ist nicht neu, sondern wurde von der bisherigen Forschung bereits mehrfach aufgezeigt. [1] Grafs Studie bereichert die Forschung aber um neue Erkenntnisse über die Diskussion der Armutsfrage innerhalb dieser Oppositionsparteien. So zeigt die Autorin erstens die oben skizzierten fundamental unterschiedlichen Vorstellungen beider Parteien von Armut und Armutsbekämpfung auf. Zweitens zeigt sie auch, dass die Armutsfrage die Oppositionsparteien nicht nur in Konkurrenz zur Regierung brachte, sondern dass SPD und GRÜNE sich auch untereinander als Konkurrenten um die Ausdeutung der Armutsfrage begriffen. Grafs Kapitel über die Wechselwirkungen zwischen beiden Parteien illustriert dies sehr anschaulich (145-153). In ihrem Fazit stellt Graf sich außerdem entschieden gegen die bisher dominierende Forschungsmeinung, nach der die GRÜNEN in den 1980er Jahren die Rolle des "Anwalts der Armen" einnahmen und armutspolitische Innovation maßgeblich von ihnen ausging. Allerdings überzeugt ihre Argumentation an dieser Stelle nicht vollständig. Denn sicher macht Graf zu Recht darauf aufmerksam, dass die armutspolitischen Vorstöße der GRÜNEN teilweise sehr unrealistische Forderungen enthielten. Weniger überzeugend ist allerdings ihr Argument, dass die GRÜNEN in dieser Zeit die Armutsfrage nutzten, um ihr sozialpolitisches Profil in Abgrenzung zu den etablierten Parteien zu schärfen. Zwar unterstellt sie den GRÜNEN diese strategischen Motive sicher zu Recht. Allerdings hat sie selbst zuvor aufgezeigt, dass diese genauso der SPD unterstellt werden können, die die Armutsfrage nutzte, um ihre sozialpolitische Kompetenz zu demonstrieren. Und genau das ist ja auch zentrales Thema der Studie, die nicht zufällig den Titel Inszenierung der Neuen Armut trägt. Graf analysiert diese Inszenierung der Armutsfrage durch die Oppositionsparteien in einer sehr gut strukturierten und gut lesbaren Studie. Dabei ergänzt sie die bisherige Forschung um neue Einsichten.


Anmerkung:

[1] Vgl. beispielsweise: Winfried Süß: Vom Rand in die Mitte der Gesellschaft? Armut als Problem der deutschen Sozialgeschichte 1961-1989, in: Sozialstaat Deutschland. Geschichte und Gegenwart, hgg. von Ulrich Becker / Hans Günter Hockerts / Klaus Tenfelde, Bonn 2010, 123-140.

Sarah Haßdenteufel