Jeremy Hicks: First Films of the Holocaust. Soviet Cinema and the Genocide of the Jews, 1938-1946 (= Pitt Series in Russian and East European Studies), Pittsburgh, PA: University of Pittsburgh Press 2012, IX + 300 S., 65 s/w-Abb., ISBN 978-0-8229-6224-3, USD 28,95
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Sowjetische Filme sind für die ausschweifende Darstellung des Zweiten Weltkrieges bzw. dessen als "Großer Vaterländischer Krieg" bezeichneten Abschnitt (1941-1945) bekannt. Die Frage, ob diese Filme jedoch auch den Holocaust dokumentierten oder porträtierten, wurde bis jetzt nicht eingehend untersucht, obwohl der Judenmord zum großen Teil in den von der Roten Armee befreiten Gebieten stattfand, das Leben vieler sowjetischer Bürger forderte und eben während des "Großen Vaterländischen Krieges" geschah. Jeremy Hicks geht dieser Frage nach, indem er mehrere sowjetische Dokumentar- und Spielfilme, die zwischen 1938 und 1946 entstanden, analysiert. Er erklärt das Funktionieren sowie die Hintergründe dieser frühen Kriegskinematographie und präsentiert Erkenntnisse, die die bisherigen Forschungen über die Wahrnehmung und den Umgang mit dem Genozid an den Juden in der Sowjetunion sowohl bestätigen als auch erweitern.
Sowjetische Dokumentaristen und Filmemacher waren mit Ausnahme weniger deutscher Kameramänner oder Soldaten oft die ersten, die die Opfer des Nationalsozialismus an einigen Vernichtungsorten filmten. Die entscheidende Frage, die sich bei der Betrachtung ihres Materials stellt, ist die, ob sie nur sowjetische Opfer sahen und darstellten oder ob es ihnen bei der Betrachtung der Massenerschießungsgräber und anderer Vernichtungsorte bewusst war, dass die Mehrzahl der gefilmten Opfer aus rassistischen Motiven ermordet wurde. Um diesen durchaus komplizierten Prozess zu verstehen, muss man ihn - wie Hicks überzeugend darlegt - im Kontext der Sowjetisierung des Holocaust und seiner Opfer begreiflich machen.
Mit Ausnahme weniger ideologisch bedingter Motive, wie etwa der Erschießung polnischer Offiziere in Katyn, verfälschten sowjetische Filme nicht den Ablauf von Ereignissen (14, 173). Sie stellten sie jedoch entsprechend bestimmter ideologischer Vorgaben dar. Eine der wichtigsten und interessantesten Maßnahmen war die Verwischung der Identität der Opfer und der Motive der Täter. So zeigten zwar viele frühe sowjetische Filme Aufnahmen von den Konzentrationslagern oder Massenerschießungsgräbern, ohne darauf hinzuweisen, dass sie Bilder von Juden zeigten, an denen aus rassistischen Gründen Verbrechen begangen wurden. Stattdessen wurde die Botschaft übermittelt, dass die Opfer der grausamen Massaker sowjetische Bürger ohne eine bestimmte ethnische oder nationale Identität waren, was das Zusammengehörigkeitsgefühl in der sowjetischen Gesellschaft stärken sollte.
Die von Hicks analysierten Filme umfassen verschiedene Genres und operieren mit sehr verschiedenen Symbolen und Motiven. Der auf Friedrich Wolfs Theaterstück "Professor Mamlock" basierende Spielfilm von 1938 attackierte sowohl den Antisemitismus deutscher Nationalsozialisten als auch den Kapitalismus an sich und präsentierte den Kommunismus als die einzige Ideologie, die Juden zu antifaschistischer Aktivität motivierte - ohne in diesem Zusammenhang den Zionismus auch nur zu erwähnen. Dadurch stellte er sich in die Tradition von Filmen und anderen Kunstwerken, die diese politische Bewegung tabuisierten (21, 27). Stalin war durch die Agenten des NKVD über die nach dem Angriff auf die Sowjetunion von deutschen Einsatzgruppen durchgeführten Massenerschießungen von Juden gut informiert. Die sowjetischen Wochenschauen präsentierten jedoch diese Form der Gewalt als eine gegen die Sowjetbürger gerichtete Maßnahme und zensierten entsprechend die Reden von Ilja Ehrenburg und anderen Intellektuellen, die auf die jüdische Dimension dieses Genozids hinwiesen (45-47). So zeigten auch die ersten Filme, die nach der Wiederbesetzung von Orten wie Rostow am Don gedreht wurden, zerstörte Kirchen aber niemals Synagogen. Die Opfer wurden in der Regel als "friedliebende sowjetische Bürger" präsentiert, ohne ihre Nationalität zu spezifizieren und auf die eigentlichen Motive der Täter einzugehen (49-50). Diese Art der ideologisierten und von oben bestimmten Kinematographie stieß jedoch auch auf ihre Grenzen, unter anderem weil einige Dokumentaristen selbst Juden waren, die jüdische Symbolik für wichtig hielten und sie trotz der offiziellen Anweisungen und Parteirichtlinien integrierten. So wurden in einigen Wochenschauen aus dem Jahr 1941 die von den deutschen Besatzern eingeführten Armbinden mit der Aufschrift "Jude" gezeigt (58-59). Bei der Darstellung von Massenerschießungsgräbern sprachen aber dieselben Wochenschauen von Menschen, die ermordet wurden, weil sie sowjetische Bürger waren (62, 69).
Eine andere in der Sowjetunion umstrittene Herangehensweise an das Thema des Krieges präsentierte Oleksandr Dowschenko, ein sowjetischer Regisseur ukrainischer Herkunft, der seit April 1943 auch Mitglied der Ukrainischen Kommission zur Untersuchung deutscher Kriegsverbrechen war. 1943 produzierte er den Dokumentarfilm "Der Kampf für unsere sowjetische Ukraine", in dem er das ukrainische und nicht das sowjetische Leiden in den Vordergrund stellte und die Ermordung von Juden ignorierte (118-119, 124-125). Diese Art der Darstellung nationalsozialistischer Verbrechen machte ihn in Augen der Kommunistischen Partei verdächtig, weshalb seine nächste Produktion "Die Ukraine in Flammen" wegen "nationalistischer Untertöne" von Stalin und dem Zentralkomitee der Sowjetunion verhindert wurde (108). Nur wenige Filme wie Mark Donskojs "Die Unbeugsamen" über die Massaker in Babij Jar konnten Juden als Opfer der Massenerschießungen zeigen, obwohl auch dieser bekannte und für sowjetische Verhältnisse sehr unabhängige Regisseur und Dokumentarist viele sowjetische Symbole und ideologische Klischees integrieren musste (134-153).
Obwohl sowjetische Soldaten bereits vor der Befreiung der nationalsozialistischen Lager viele makabre Verbrechen sahen, machte die Konfrontation mit der industriellen Art des Mordens zuerst in Majdanek und dann in anderen Massenvernichtungslagern einen besonders schockierenden Eindruck auf sie und spiegelte sich entsprechend in den Filmen wider, die jedoch die Opfer auch nicht als Juden, sondern als eine unbestimmte Masse präsentierten (160, 165). Trotz der Verurteilung von Hitlers Massenvernichtungspolitik und der Befreiung Europas von seiner Herrschaft, gehörte der Antisemitismus zum sowjetischen Alltag und führte unter anderem zu einem Pogrom in Kiew 1945. Die Situation spitzte sich besonders nach der Entstehung des israelischen Staates 1948 zu, was sich auch auf die Filmproduktion und ihre Rezeption in der Sowjetunion auswirkte. Die in den ersten sowjetischen Filmen gezeigten Elemente wie die Armbinden, die zumindest sporadisch auf die rassistischen Motive der Täter, die Identität der Opfer und die Hintergründe der Verbrechen hinwiesen, tauchten in den späteren Produktionen nicht mehr auf. Ebenso wurden Filme wie Donskois "Die Unbeugsamen" nicht mehr gezeigt, weil sie zu spezifisch auf die Motivationen der Täter hinwiesen, wodurch sie in den Augen des Zentralkomitees die Kohärenz der sowjetischen Gesellschaft gefährdeten und dazu von dem Kult um den heldenhaften Sieg der Roten Armee über Nazi-Deutschland ablenkten (213-215).
Hicks Studie bietet eine interessante Analyse eines übersehenen und vergessenen Gegenstandes. Seine Erkenntnisse belegen, dass frühe sowjetische Filme den Holocaust sowohl dokumentierten als auch verschleierten. Diese Belege stellen eine wichtige Ergänzung der bereits existierenden Literatur über den sowjetischen Umgang mit dem Holocaust dar und gewähren Einblicke in die Wahrnehmung von Menschen, die trotz des ideologischen Drucks einen während des Zweiten Weltkrieges geschehenden Genozid auf die Leinwand brachten - oder ihn gemäß den Parteianweisungen verschwiegen oder instrumentalisierten.
Grzegorz Rossoliński-Liebe