Huw Dylan: Defence Intelligence and the Cold War. Britain's Joint Intelligence Bureau 1945-1964, Oxford: Oxford University Press 2014, XVI + 240 S., 1 s/w-Abb., ISBN 978-0-19-965702-5, GBP 60,00
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Am Ende des Zweiten Weltkrieges sah sich die britische intelligence community mit zwei vorrangigen Herausforderungen konfrontiert: dem Wechsel des Fokus von Deutschland auf die Sowjetunion und die übrige kommunistische Staatenwelt sowie der Gewinnung eines einheitlichen militärischen Nachrichtenbildes über den neuen Gegner auf strategischer Ebene. Huw Dylan wendet sich in seinem Buch über das Joint Intelligence Bureau (JIB) einer Neugründung des Jahres 1946 zu, die geschaffen wurde, um die zuvor institutionell in diverse committees, subcommittees und working parties verstreute geheimdienstliche Auswertung der wissenschaftlich-technischen, (rüstungs-)wirtschaftlichen und (militär-)topographischen Entwicklung der UdSSR, Chinas, Nordkoreas und des sonstigen Ostblocks unter einem Dach zu vereinen.
Der Autor untersucht nicht die Praxis der Spionage, wie sie von den bekannten Diensten MI 6/Secret Intelligence Service und GCHQ (Government Communications Headquarters) betrieben wurde. Er stellt stattdessen die Frage, wie eine übergreifende nachrichtendienstliche Analyse und Handlungsempfehlung in der militärischen Aufklärung zustande kam, und welche Auseinandersetzungen es dabei besonders mit den Aufklärungsdiensten der Teilstreitkräfte gab. In drei organisationsgeschichtlichen Kapiteln werden dargestellt: die Gründung des JIB; seine Zusammenarbeit mit von den Briten installierten oder initialisierten vergleichbaren Körperschaften in Nahost (Kairo), Fernost (Singapur), Kanada und Australien; sowie die schlussendliche Zusammenführung mit der geheimdienstlichen Analyse von Army, Royal Navy und Royal Air Force in einem zentralen Defence Intelligence Staff (DIS), nicht zuletzt aufgrund eines hohen Drucks, im Verteidigungsbereich sparsamer zu operieren. In vier weiteren Kapiteln geht es um die großen Themen des Bureaus: die militärische Infrastruktur der kommunistischen Länder, um rüstungswirtschaftliche Informationsgewinnung und daraus erarbeitete embargopolitische Vorschläge, sodann in zwei Abschnitten um die Einschätzung des konventionellen und nuklearen Bomber- und Raketenpotentials der Sowjetunion.
Ein britischer Rezensent hat die Bedeutung des JIB hervorgehoben: Ihm habe der angebliche Glanz anderer geheimdienstlicher Akteure gefehlt, aber in seiner Tätigkeit sei es um Fragen von Leben und Tod gegangen. Denn die Agenda habe sich nicht zuletzt um die nukleare Vernichtung des Königreichs gedreht: "As intelligence issues go, it does not get much bigger than that!" [1]. Dylans Arbeit steht allerdings wiederholt vor dem Problem, dass die Akten des JIB nirgendwo in Gänze zugänglich, sondern vornehmlich aus Parallelüberlieferungen zu rekonstruieren oder noch nicht freigegeben sind. Im Ergebnis bleibt die eigentliche Arbeitsweise des Bureau weithin eine black box: Über Personal, Persönlichkeiten, Dienstbetrieb oder Atmosphäre erfährt der Leser wenig. Allein der einflussreiche Direktor, Major General Kenneth Strong, ehemaliger G-2 von General Eisenhower während der alliierten Landung in der Normandie, der eine treibende Kraft unter den "Zentralisierern" in der britischen community war, erhält größere Aufmerksamkeit. Die Untersuchung punktet daher weniger durch tiefe Einblicke in die genaue Funktionsweise des JIB. Stattdessen lassen sich für die ersten beiden Dekaden nach 1945 drei wesentliche Beobachtungen auf der Makroebene festhalten:
1. Im Anschluss an andere Forschungen, etwa von Paul Maddrell, betont Dylan die kaum zu überschätzende, fortdauernde Relevanz der UdSSR-Aufklärung der Wehrmacht für die alliierten Dienste. Insbesondere gilt das für Kartenmaterial und Luftbildaufnahmen; nur die Deutschen besaßen hierzu Unterlagen erster Güte, und bis in die zweite Hälfte der 1950er Jahre beruhte das infrastrukturelle Wissen der Briten und US-Amerikaner über sowjetische Flugplätze, Häfen, Eisenbahnlinien, Straßen, Brücken und Ölfelder auf den Vorleistungen von Görings Luftwaffe sowie auf der Befragung heimkehrender deutscher Kriegsgefangener und bei Kriegsende zeitweilig in die Sowjetunion deportierter Experten.
2. Deutlich wird, wie sehr Army, Royal Navy und Royal Air Force auf ihren eigenen nachrichtendienstlichen Kompetenzen beharrten, die zivile Komponente des JIB ablehnten und sich gegen Zentralisierung sträubten. Gerade das Air Ministry sah seine vermeintlich exklusive Zuständigkeit für Luftaufklärung in Frage gestellt. Für die defence intelligence Londons freilich spielten Informationen über sowjetische Bomber und ballistische Raketen eine entscheidende Rolle, hatte man doch richtig erkannt, dass die sowjetische Luftschlagskapazität im frühen Kalten Krieg weniger die weit entfernten Vereinigten Staaten als die von Osteuropa aus leichter erreichbaren Britischen Inseln bedrohte. Erst 1964 gelang im Zuge einer allgemeinen Reform des Verteidigungssektors, in der die vorher unabhängigen Teilstreitkräfte ins Ministry of Defence eingegliedert wurden, auch die Zusammenführung ihrer spezifischen nachrichtendienstlichen Analyse über die östlichen Heere, Marinen und Luftwaffen mit dem JIB zu einem integrierten Stab, dem DIS - mit dem Ziel einer ganzheitlichen Betrachtung militärisch relevanter Angelegenheiten des Gegners.
3. Dylan hebt die gute Zusammenarbeit des JIB mit den US-Diensten hervor. Er zeigt aber zugleich, dass das Bureau der britischen intelligence machinery unabhängige Bewertungen zur Verfügung stellte. London kam dabei zu realistischeren, weniger ideologisch geprägten Einschätzungen der sowjetischen (Un-)Fähigkeit zum Angriffskrieg als Washington. Methodisch wurde beispielsweise das allgemeine Potential der sowjetischen Industrieproduktion zum Maßstab genommen: Die Botschaft in Moskau wurde auf Einkaufstour geschickt und erwarb Konsumgüter wie Radios und Fotoapparate, um das Technologieniveau des Landes abzuschätzen. Induktiv schlossen die JIB-Analytiker daraus auf die (eher geringe) Leistungsfähigkeit bei der (deshalb langsameren) Herstellung größerer Waffensysteme. Der Umfang der Bomberproduktion Moskaus wurde - vor der Zeit der U 2-Spionageflüge und der Satellitenaufklärung - extrapoliert aus offiziellen sowjetischen Verlautbarungen, der bereits bekannten Komposition der sowjetischen Luftwaffe sowie allen erhältlichen Informationen über Flugzeugfabriken, vom Personalbestand bis hin zur Quadratmeter-Zahl der Produktionshallen. Im Laufe seiner achtzehnjährigen Existenz entwickelte sich das JIB zu der Autorität für die militärische Produktion der Sowjetunion.
Trotz aller ursprünglichen Widerstände, so das abschließende Urteil Dylans, sei die Integration der Analyse von JIB und Teilstreitkräften im Zuge der Reform von 1964 als Erfolg zu betrachten und besser gelungen als die meisten anderen Maßnahmen bei der Aufwertung des Verteidigungsministeriums gegenüber War Office, Admiralty und Air Ministry. Was die Politik daraus machte, war eine andere Frage. Denn Whitehall war wohl mehr als alle anderen westeuropäischen Länder bereit, nachrichtendienstliche Ergebnisse bei der Politikgestaltung zu berücksichtigen; aber daran hatten JIB und DIS keinen Anteil mehr. Ihre Aufgabe endete mit der Politikberatung.
Aus deutscher Sicht fällt einmal mehr auf, wie weit die intellligence studies in Großbritannien vorangeschritten sind. Der Untersuchungszuschnitt Dylans ist klassisch politik- und organisationsgeschichtlich, die Quellenlage schwierig, die Thematik auf den ersten Blick etwas für wenige Experten. Die Diskussion um Zentralisierung oder Spezialisierung der britischen Militäraufklärung sowie das besondere Arbeitsgebiet des JIB verweisen dann aber auf die großen verteidigungspolitischen Linien des Königreichs, die "prevailing trends of time: economies, cooperation, and preparedness" (168). Von vergleichbaren Erörterungen ist die Forschung zu den westdeutschen Diensten weit entfernt. Es bleibt zu hoffen, dass die künftige Aufarbeitung der (personellen, strukturellen, mentalen) Kontinuitäten zum Nationalsozialismus mit den originären Tätigkeiten der geheimen Apparate im Kalten Krieg verknüpft wird und diese nicht zuletzt als Teil des sicherheits- und außenpolitischen Instrumentariums der Bonner Republik diskutiert werden.
Anmerkung:
[1] Vgl. die Besprechung von Rory Cormac in: Reviews in History, URL: http://www.history.ac.uk/reviews/review/1784 (letzter Zugriff am 2.1.2016).
Armin Wagner