Rezension über:

Wigbert Benz: Hans-Joachim Riecke, NS-Staatssekretär. Vom Hungerplaner vor, zum "Welternährer" nach 1945, Berlin: Wissenschaftlicher Verlag Berlin 2014, 127 S., ISBN 978-3-8657-3793-9, EUR 19,00
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Rezension von:
Alex J. Kay
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Alex J. Kay: Rezension von: Wigbert Benz: Hans-Joachim Riecke, NS-Staatssekretär. Vom Hungerplaner vor, zum "Welternährer" nach 1945, Berlin: Wissenschaftlicher Verlag Berlin 2014, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 3 [15.03.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/03/27574.html


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Wigbert Benz: Hans-Joachim Riecke, NS-Staatssekretär

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Diese von Wigbert Benz vorgelegte biografische Studie behandelt eine Schlüsselfigur der deutschen Ernährungs- und Ausbeutungspolitik im besetzten Osten. Hans-Joachim Riecke war 1941-1944 Leiter der beiden Chefgruppen Ernährung in Hermann Görings Wirtschaftsstab Ost und in Alfred Rosenbergs Ostministerium. Zudem war er ab 1942 de facto und ab 1944 offiziell Staatssekretär im Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft.

Neben der Einleitung gliedert Benz seine Studie in fünf Teile: "Lebenslauf bis zum Zweiten Weltkrieg", "Im Zweiten Weltkrieg (1939-1945)", "Inhaftierung und Nürnberger Prozesse (1945-1949)", "Entnazifizierung (1949-1952/54)", sowie "Karriere beim Getreideunternehmen Toepfer ab 1951".

Riecke wurde 1899 als Sohn eines Hauptmanns geboren. Seine radikalisierende politische Sozialisation in der Zeit vor 1933 war durchaus charakteristisch für einen nicht unerheblichen Teil der späteren Spitzenfunktionäre von NSDAP und SS. Im Herbst 1914 trat er mit fünfzehn Jahren als Kriegsfreiwilliger ins Heer ein. Er wurde mit dem Eisernen Kreuz II. Klasse ausgezeichnet und "im April 1917 mit noch nicht einmal 18 Jahren zum Leutnant der Reserve befördert" (15). Im November 1918 schloss er sich einem Freikorps an, kämpfte 1919/20 mit der "Eisernen Division" im Baltikum und nahm im März 1920 am gescheiterten Kapp-Putsch teil. Schon 1925 trat Riecke in die NSDAP ein und 1929 übernahm er die Führung der SA in Münster, wo er zum Adjutanten des Gauleiters Westfalen-Nord, Alfred Meyer, avancierte.

1936 wechselte Riecke nach Berlin ins Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft. Im Frühjahr 1941 wurde er außerdem Leiter der Chefgruppe Ernährung im Wirtschaftsstab Ost, der Organisation zur wirtschaftlichen Ausbeutung der sowjetischen Gebiete. Am 23. Mai erschienen die berüchtigten von der Chefgruppe Ernährung ausgearbeiteten "Wirtschaftspolitischen Richtlinien". Sie sahen die Entindustrialisierung Russlands sowie die rücksichtslose Nutzung der Nahrungsmittel der zu besetzenden sowjetischen Gebiete zugunsten des Deutschen Reiches vor: "Viele 10 Millionen von Menschen werden in diesem Gebiet überflüssig und werden sterben oder nach Sibirien auswandern müssen. Versuche, die Bevölkerung dort vor dem Hungertode dadurch zu retten, daß man aus der Schwarzerdezone Überschüsse heranzieht, können nur auf Kosten der Versorgung Europas gehen. Sie unterbinden die Durchhaltemöglichkeit Deutschlands im Kriege, sie unterbinden die Blockadefestigkeit Deutschlands und Europas. Darüber muß absolute Klarheit herrschen." (39f.)

Innerhalb von knapp drei Jahren raubte Rieckes Apparat mithilfe der über 10.000 angeworbenen Landwirtschaftsführer vor Ort über neun Millionen Tonnen Getreide, eine dreiviertel Million Tonnen Ölsaaten, zirka 600.000 Tonnen Fleisch und 150.000 Tonnen Fette aus der Sowjetunion. Aufgrund dieser extremen Ausbeutung der Nahrungsmittelressourcen zugunsten der Wehrmacht, deutscher Beamte und Kollaborateure in den besetzten Gebieten sowie der deutschen Zivilbevölkerung "verhungerten alleine in den besetzten Gebieten der Sowjetunion zwischen vier und sieben Millionen Menschen" (55).

Obwohl Teil III des Buches, "Im Zweiten Weltkrieg (1939-1945)", bei weitem der längste der fünf Teile ist (38 Seiten), wirkt er ein wenig unzusammenhängend. Unterkapitel zum "Verhältnis mit Rosenberg", zum "Vortrag auf der Osttagung 1942" sowie zur "Besatzungspolitik 1943" folgen unmittelbar aufeinander. Hier hätte man etwas ausführlicher die Tätigkeit Rieckes sowie die von ihm vertretene Linie in der Zeit von 1941 bis 1943 schildern können. Schon Ende Juli 1941 forderte Riecke die "allerkleinsten Rationen" für die sowjetischen Arbeitskräfte. Die erwarteten Agrarlieferungen an Deutschland seien "nur unter schärfster Drosselung des einheimischen Bedarfes möglich". Bei seinen Inspektionsreisen durch die besetzten sowjetischen Gebiete ließ er es 1943 überprüfen, ob dort sowjetische Zivilisten "unberechtigt Lebensmittel empfangen". [1]

Der Autor hebt zu Recht den von Riecke in Vertretung des Staatssekretärs Backe unterschrieben Erlass zur Lebensmittelversorgung der Juden vom 18. September 1942 hervor. Danach wurden Juden von der Ausgabe von "Fleisch-, Eier- und Milchkarten" sowie "örtlichen Bezugsausweise[n]" ausgeschlossen (57). Ferner wurden Lebensmittelzuteilungen an jüdische Kinder gekürzt. Es wäre hilfreich gewesen, wenn Benz den "Judenrationserlass" in den Zusammenhang der antijüdischen Politik Deutschlands bzw. der Rolle Rieckes darin eingeordnet hätte. Beispielsweise hatte Riecke die Notizen abgezeichnet, die Backe bei seinem Vortrag bei Hitler Anfang Mai 1942 über die Ernährung der Juden in der Ukraine und im Generalgouvernement benutzte. [2]

Nach dem Krieg sollte Riecke ursprünglich wegen seiner Mitverantwortung für den Raub von Nahrungsmitteln in den besetzten Ostgebieten im Nürnberger Wilhelmsstraßenprozess angeklagt werden. Dazu kam es allerdings nicht, weil beschlossen wurde, das Ausmaß der Nürnberger Nachfolgeprozesse zu reduzieren. Obwohl er im Entnazifizierungsverfahren zunächst als "Hauptschuldiger" angeklagt wurde, konnte die Anklage keinen einzigen Zeugen aufbieten, der Riecke belastet hätte. Daraufhin wurde er als "Belasteter" eingestuft und zu zwei Jahren Arbeitslager verurteilt, die jedoch wegen seiner Internierung seit 1945 als verbüßt galten. 1954 verfügte der hessische Ministerpräsident sogar, dass Riecke gegen eine Zahlung von 500 DM in die Gruppe der "Mitläufer" eingereiht wurde. Ab 1951 machte Riecke Karriere im Agrarhandelsunternehmen Alfred C. Toepfer, das zu den "führenden international tätigen Getreide- und Futtermittelhandelsfirmen" zählte (107). In seinen Ende der 1960er Jahre verfassten Lebenserinnerungen zog Riecke das Fazit: "Ich bin's zufrieden!" (117). Offenbar hat Riecke seine Vergangenheit nie kritisch gesehen.

Wichtigste Einzelquelle für das vorliegende Buch sind Rieckes im Bundesarchiv aufbewahrten Erinnerungen. Benz stütz sich bei mehreren Abschnitten seiner Studie zwar hauptsächlich auf Rieckes Rechtfertigungsschrift, weiß es aber, die gebotene Quellenkritik anzuwenden, um die Erinnerungen dann gekonnt auseinanderzunehmen. Er fasst zusammen: "Hinzuzufügen ist, dass Riecke auf direkte Lügen im Sinne des Erfindens von Fakten und Ereignissen, die es nicht gegeben hat, verzichtet. Er lügt durch Verschweigen, Marginalisieren und kontrafaktische Wertungen" (119).

Diese knappe aber sehr interessante und wichtige Überblicksdarstellung bietet eine solide Grundlage für eine noch zu schreibende umfassende Biografie über Riecke.


Anmerkungen:

[1] Christian Gerlach: Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941 bis 1944, Hamburg 1999, 246, 272 und 316. Die Studie Gerlachs wird im Literaturverzeichnis des besprochenen Buches aufgeführt und tatsächlich an mehreren Stellen zitiert.

[2] Christian Gerlach: Die Bedeutung der deutschen Ernährungspolitik für die Beschleunigung des Mordes an den Juden 1942. Das Generalgouvernement und die Westukraine, in: Christian Gerlach: Krieg, Ernährung, Völkermord. Deutsche Vernichtungspolitik im Zweiten Weltkrieg, überarbeitete Ausgabe, Zürich 2001, 153-234, hier: 179.

Alex J. Kay