Andreas Würgler: Die Tagsatzung der Eidgenossen. Politik, Kommunikation und Symbolik einer repräsentativen Institution im europäischen Kontext (1470 - 1798) (= Frühneuzeit-Forschungen; Bd. 19), Epfendorf: bibliotheca academica 2013, 717 S., ISBN 978-3-928471-86-2, EUR 68,00
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Wenn im Klappentext davon die Rede ist, dass es sich bei dem Buch um "die überfällige Untersuchung der wichtigsten Institution der vormodernen Schweiz" handelt, so ist das ausnahmsweise nicht nur ein wohlfeiler Werbetext, sondern kennzeichnet den Stellenwert der hier vorzustellenden Publikation zutreffend. Denn es war in der Tat völlig unerklärlich, dass die eidgenössische Tagsatzung bisher noch keine auch nur einigermaßen befriedigende Bearbeitung erhalten hatte, zumal mit den "Eidgenössischen Abschieden" bei aller Unzulänglichkeit der Bearbeitung in Regestenform eine zentrale Quellenedition seit weit über hundert Jahren vorliegt. Diesem Mangel ist nun aber entscheidend abgeholfen.
Der besondere Charakter der Tagsatzung bedingt dabei das methodische Vorgehen. Denn die Tagsatzung war keine Ständeversammlung mit mehr oder weniger genau festgelegten Verfahren, deren Beratungen am Ende in einen allgemeinverbindlichen Abschied mündeten. Tagsatzungen waren zunächst einmal ganz allgemein formuliert Versammlungen von Gesandten mehrerer Orte. Würgler definiert deshalb ganz pragmatisch, dass er alle Versammlungen von mehr als drei Orten oder Versammlungen, bei denen Vertreter beider Konfessionen anwesend waren, als Tagsatzungen versteht. Damit ergeben sich für die Zeit von 1470 bis 1798 über 2000 Tagsatzungen, die in die Analyse eingeflossen sind. Von ihrer Funktion her wohnte der Tagsatzung ein Doppelcharakter inne: einerseits Gesandtenkongress für die einzelnen Orte, andererseits Regierung für die Gemeinen Herrschaften. Der Fokus der vorliegenden Untersuchung liegt auf dem Gesandtenkongress, eine angesichts der Masse des Materials sinnvolle Schwerpunktsetzung.
Die Arbeit gliedert sich in drei Teile: Auf eine quantitative Analyse der Tagsatzungen, die nach den Teilnehmern und Sitzungsorten fragt, folgt ein der Kulturgeschichte des Politischen verpflichteter Teil, der die Tagsatzung als Ort vielfältiger Kommunikations- und Interaktionsformen untersucht und die symbolische Kommunikation in den Blick nimmt. In einem dritten Teil wird die Wahrnehmung der Tagsatzung im europäischen Kontext analysiert und die Tagsatzung mit anderen repräsentativen Versammlungen verglichen.
Angesichts fehlender normativer Festsetzungen kann erst die quantitative Auswertung, die sich einer handlungsorientierten Analyse bedient, die Tagsatzung als Institution genauer konturieren. Dabei sind verschiedene Typen von Sitzungen zu unterscheiden: in erster Linie gemeineidgenössische, gemeinherrschaftliche und konfessionelle Sitzungen, daneben gab es noch Sonderkonferenzen zu speziellen Themen wie dem Münzwesen. Die Analyse zeigt, dass die verschiedenen Typen zu unterschiedlichen Zeiten Hochkonjunktur hatten: Dass zwischen 1528 und 1712 die Sitzungen der beiden Konfessionsparteien überwogen, war zu erwarten. Die nach 1712 deutlich abnehmende Sitzungsfrequenz deutet auf eine doch spürbar abnehmende Kohärenz des eidgenössischen Gemeinwesens hin. Freilich stieg gleichzeitig die Zahl der Traktanden pro Sitzung, was Würgler als eine zunehmende Institutionalisierung der Sitzungstätigkeit deutet.
Die insgesamt hohe Teilnahmefrequenz der einzelnen Orte an den Tagsatzungen bestätigt den Rang der Tagsatzung als des zentralen Gremiums der Eidgenossenschaft. Die Erfassung der zu den Tagsatzungen entsandten Boten bietet im Kern eine soziopolitische Analyse der eidgenössischen Elite. Denn obwohl Tagsatzungsbote kein festes Amt war, sondern die Boten jedes Mal aufs Neue ernannt werden mussten, war es doch ein verhältnismäßig kleiner Kreis von Männern, der sich regelmäßig auf den Tagsatzungen traf und durch diese permanente Interaktion eine gesamteidgenössische Führungsschicht konstituierte.
Die quantitative Analyse der Tagsatzungen liefert damit einen fundierten Überblick über die Tätigkeit der Tagsatzung in der Frühen Neuzeit. Manche Angaben über Teilnehmerkreis, Tagungsfrequenzen, Tagungsorte, inhaltliche Schwerpunktsetzungen oder Akteure werden die Spezialisten nicht überraschen. Aber während man bisher auf die eigenen vagen Eindrücke angewiesen war, liegt nunmehr fundiertes Zahlenmaterial vor.
Während die quantitative Analyse im ersten Teil sich überwiegend auf die Eidgenössischen Abschiede stützen konnte, basiert die Untersuchung der Kommunikation und Interaktion auf den Tagsatzungen darüber hinaus auf diplomatischen Quellen und Egodokumenten. In diesem Kapitel wird anhand des exemplarischen Ablaufs einer Tagsatzung plastisch vor Augen geführt, was eine Tagsatzung war: von der Einladung und der Anreise der Gesandten über die einzelnen Beratungen und das gesellschaftliche Leben bis zur Entscheidungsfindung. Diese Schilderung des Ablaufs lässt deutlich werden, weshalb der Tagsatzung ein so schlechter Ruf anhaftet; vielleicht auch: weshalb sie bisher kaum erforscht worden ist. Denn die Tagsatzung entsprach eben so gar nicht den Anforderungen an eine moderne Institution und sie machte in den drei Jahrhunderten des Untersuchungszeitraums auch keine spürbare Entwicklung in diese Richtung durch. Das Einstimmigkeitsprinzip führte zu langsamen, aus moderner Sicht: quälend langwierigen, Entscheidungsprozessen. Freilich vermag Würgler zu zeigen, dass der Zweck der Diskussionen auf der Tagsatzung weniger im Erzielen eines Abstimmungsergebnisses, sondern im Austausch von Positionen und damit letztlich in der Herstellung von Konsens lag. Auch das Ende der Tagsatzung ist aus der Perspektive moderner Organisationen unbefriedigend. Denn am Ende stand nicht ein einzelner Abschied, auf den sich alle Orte geeinigt hatten, sondern jeder Ort erhielt einen eigenen Abschied mit den ihn betreffenden Punkten. Nicht selten waren die verschiedenen Fassungen im Detail widersprüchlich. Und selbst wo sie übereinstimmten, enthielten sie in vielen Artikeln häufig nur die Angabe, dass die Boten die einzelnen Punkte auf "Hintersichbringen" angenommen hatten, da sie ihre Instruktionen als nicht ausreichend erachteten. Insgesamt wurde mithilfe dieser Verfahren das Verhältnis zwischen der einzelörtischen Souveränität und der eidgenössischen Gemeinsamkeit ständig neu ausgehandelt, ohne freilich je endgültig geklärt zu werden.
Dennoch wurde - trotz der tiefen konfessionellen Gräben und der Betonung der Eigenständigkeit der Orte - an der ewigen Gültigkeit der Bünde nicht gerüttelt. Vor allem verkraftete es die Eidgenossenschaft auch ohne Probleme, dass es nach 1526 keine gemeinsame Bundesbeschwörung mehr gab. An ihre Stelle trat zunehmend der eidgenössische Gruß zu Beginn der Tagsatzung, in dem die eidgenössische Gemeinsamkeit wortreich beschworen wurde. In der Zusammenschau mit der Analyse der eidgenössischen Führungsschicht aus dem ersten Teil erweisen sich die Kommunikation und Interaktion der Akteure als das zentrale Ergebnis der Tagsatzungen. Die Problemlösungskompetenz der Tagsatzung lässt sich eben nicht an ihrem Output an Abschieden und Verordnungen messen. Die beständige Kommunikation ermöglichte es aber immerhin, dass z.B. die Religionskriege und Aufstände in der Eidgenossenschaft sich im europäischen Vergleich doch in einem überschaubaren Rahmen hielten und dass es trotz aller Konflikte nicht zu einer Spaltung der Eidgenossenschaft kam.
Insgesamt ergibt sich so das Bild eines durchaus komplizierten Gebildes, das kaum auf einfache Formeln zu bringen ist, sich einer eindeutigen Kategorisierung entzieht und wohl nur in der Beschreibung seines Vollzugs adäquat zu erfassen ist. Und genau das spiegelt sich auch im dritten Teil der Arbeit über die Wahrnehmung der Tagsatzung im europäischen Kontext wider. Es nimmt nicht wunder, dass die frühneuzeitlichen Diplomaten die Verhältnisse in der Eidgenossenschaft als kompliziert beschrieben. Selbst die im 18. Jahrhundert einsetzende Schweiz-Begeisterung trug nicht zu einem besseren Verständnis der Strukturen dieses Gemeinwesens bei. Auch die moderne Geschichtswissenschaft tut sich weiterhin schwer mit der Einordnung der Eidgenossenschaft und damit auch der Tagsatzung. Vehement plädiert Würgler deshalb dafür, die Tagsatzung in komparatistische Untersuchungen zu repräsentativen Versammlungen einzubeziehen. Mit seinem Werk hat er die für solche Vergleiche nötige Grundlage geliefert. In welche Richtung derartige Untersuchungen gehen könnten, deutet er selbst im letzten Kapitel mit einigen, notgedrungen punktuellen und nicht systematischen Vergleichen mit diversen anderen repräsentativen Versammlungen an.
Mit der Darstellung Würglers liegt erstmals eine fundierte Analyse der Tätigkeit und der Funktionsmechanismen der eidgenössischen Tagsatzung vor, die hoffentlich zu weiteren Forschungen anregt. Denn selbstverständlich könnte man bei jeder der angesprochenen Fragen noch tiefer bohren - das aber kann bei einem Überblickswerk, das mehr als drei Jahrhunderte behandelt, gar nicht anders sein.
Bettina Braun