Dieter Hein: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert (= C.H. Beck Wissen; 2840), München: C.H.Beck 2016, 128 S., ISBN 978-3-406-67507-2, EUR 8,95
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Unsere Gegenwart versteht das 19. Jahrhundert immer weniger als eigene Vorgeschichte. Dem entspreche in der Geschichtswissenschaft eine Schwerpunktverlagerung in die Zeitgeschichte. Doch Hein bleibt bei der Diagnose eines Bedeutungsschwunds nicht stehen. Es zeichne sich bereits eine gegenläufige Tendenz ab: das 19. Jahrhundert und in ihm insbesondere die deutsche Geschichte, als eine Zeit, in der es um Probleme und Konflikte ging, die heute weltweit erneut zur Debatte stünden. Er nennt fünf Problemkreise, für die das gelte: Bedingen wirtschaftliche und politische Liberalisierung einander? Wird eine umfassende Demokratisierung durch frühe politische Partizipationschancen für möglichst Viele gefördert oder behindert? Welche Rolle spielt der Nationalstaat dabei? Bezeichnen "Säkularisierung der Gesellschaft" und "Modernisierung der Religion" (8) alternative Wege? Sind Revolution und Reform sich ausschließende Alternativen? Hein gliedert seine Darstellung nicht nach diesen Fragen, doch sie sollen perspektivisch mitlaufen. Er nennt das 19. Jahrhundert "ein Durchgangszeitalter" - welches ist das nicht? -, das er mit einem "kritisch reflektierten und aktualisierten modernisierungstheoretischen Ansatz" erschließen will (9). Dass sein letztes Unterkapitel "Durchbruch der Moderne" überschrieben ist, unterstreicht, dass er seine deutsche Geschichte gegen die Tendenz geschrieben hat, das 19. Jahrhundert in die "Vormoderne" abdriften zu lassen.
Hein gliedert sein Buch in drei Kapitel, die jeweils ein "Zeitalter" vermessen: das revolutionäre (1789-1849), das industrielle (1840-1880) und das imperiale (1871-1914). Auf dem knappen Raum, der in der Reihe Beck Wissen zur Verfügung steht, ist es nicht möglich, Forschungskontroversen nachzuzeichnen und der Leserkreis erwartet es wohl auch nicht. Doch Hein versteht es, in die Entwicklungslinien, die er vor Augen führt, immer wieder Erörterungen einzuflechten, warum ältere Positionen heute nicht mehr vertreten werden und warum in manchen Fragen die Deutungen weiterhin kontrovers sind. Er bietet ein klar konturiertes Bild und kann dennoch auch einem breiteren Publikum, auf das diese Reihe zielt, verdeutlichen, warum die Bilder, welche die Geschichtsschreibung vom "langen" 19. Jahrhundert entwirft, sich änderten und warum sie nie einheitlich waren. Manches erschließt sich allerdings nur, wenn man weiß, wovon er sich absetzt. Dies gilt z.B. für den Auftakt, den er mit "Aufbruch aus der ständischen Welt" betitelt: "Ein spezifischer Auslöser und eine eindeutige Ursache sind nicht auszumachen." (13) Also keine Fanfarenstöße wie "Im Anfang steht keine Revolution" oder "Im Anfang war das Reich", mit denen H.-U. Wehler und H.A. Winkler auf Th. Nipperdeys "Am Anfang war Napoleon" zu antworten suchten. Hein bevorzugt die abwägende Argumentation, die klare, auch pointierte Deutungen nicht vermeidet, aber auch bereit ist einzuräumen, wenn die Entwicklungen offen und widersprüchlich waren und es in der Bewertung auch weiterhin sind.
Hein gliedert seine Darstellung chronologisch, so dass man sich gezielt über einzelne Phasen wie "Vormärz und Revolution" oder "Das Werden des Nationalstaats" informieren kann, doch es gelingt ihm zugleich, dass man als Leser stets auch die langen Entwicklungslinien erkennt. Eine dieser Linien sind die Transformationsprozesse von der Agrar- in die Industriegesellschaft mit der Herausbildung der Klassengesellschaft, der ein Unterkapitel gewidmet ist und der Verengung des Bürgertums zu einer "nur noch die gehobenen Kreise von Besitz und Bildung umfassenden Sozialformation" (73). Der knappe Raum lässt es nicht zu, die gesellschaftlichen Differenzierungsprozesse detailliert nachzuzeichnen, doch Hein thematisiert auch die Problembereiche des "bürgerlichen Integrationskonzepts" (35) mit Blick auf Frauen und Juden. Für letztere konstatiert er neben einer "rapide voranschreitenden Verbürgerlichung" die Entstehung einer "jüdischen Parallelwelt", da Diskriminierungen fortdauerten (16).
Der nüchterne Blick Heins bewährt sich auch bei der Analyse des Kaiserreichs. So bestimmt er als das "zentrale Kennzeichen der wilhelminischen Weltpolitik" die "Unbestimmtheit der Ziele" (99), die zur Selbstausgrenzung wesentlich beigetragen habe. Den Kriegsausbruch 1914 deutet er nicht als "Ergebnis einer groß angelegten Kriegsstrategie", aber doch als Folge einer fehlgeschlagenen "Politik des kalkulierten Risikos, gerade auch von deutscher Seite" (103). Mit Blick auf die innere Entwicklung lautet seine Diagnose: Der Obrigkeitsstaat sei durch eine Fundamentaldemokratisierung ausgehöhlt, nicht aber überwunden worden. Welche Kräfte sich ohne den Krieg durchgesetzt hätten, "lässt sich nicht entscheiden" (115).
Diese Bereitschaft zur abwägenden Argumente mag die Freunde forscher Thesen enttäuschen, doch es empfiehlt diesen schmalen Band als einen zuverlässigen Begleiter durch die deutsche Geschichte auf dem Weg in die "Moderne", als deren Signum Hein die Gleichzeitigkeit von Fortschrittserwartung mit Zivilisationskritik und Kulturpessimismus ausmacht. Aus dieser Vielfalt um 1900 im Rückblick jene Ideen in den Vordergrund zu rücken, die nach dem Ersten Weltkrieg in einem "fundamental veränderten Umfeld" triumphierten, werde "weder der komplexen Vielfalt der Zeit der Jahrhundertwende noch dem jeweiligen Stellenwert der Ideen gerecht." (125) Dieser Schlusssatz zeigt erneut Heins Willen zum abwägenden Blick in die Geschichte.
Dieter Langewiesche