Klaus-Jürgen Nagel / Stephan Rixen (eds.): Catalonia in Spain and Europe. Is There a Way to Independence?, Baden-Baden: NOMOS 2015, 229 S., ISBN 978-3-8487-1828-3, EUR 54,00
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Richard Gillespie / Caroline Gray (eds.): Contesting Spain? The dynamics of nationalist movements in Catalonia and the Basque Country, London / New York: Routledge 2015, XIV + 145 S., ISBN 978-1-85743-806-2, GBP 95,00
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Andrew Dowling: The Rise of Catalan Independence. Spain's Territorial Crisis, London / New York: Routledge 2018
Es scheint eine Achterbahnfahrt seit den katalanischen Parlamentswahlen am 27. September 2015 zu sein: Nach der Erringung der absoluten Mehrheit an Sitzen durch die Befürworter der Unabhängigkeit (aber aufgeteilt auf zwei verschiedene und politisch stark unterschiedliche Kräfte in Gestalt eines Mitte-Links-Bündnisses und einer linksradikalen Basisbewegung, die zudem zusammengenommen nur die relative Mehrheit der Stimmen erreichten), schien es lange so, dass eine Regierung nicht zustande käme und eher Neuwahlen als weitere Schritte zur Unabhängigkeit bevorständen. Die Einigung in letzter Minute am 10. Januar 2016 auf einen gemeinsamen Regierungschef - dies war ein wesentlicher Streitpunkt - hat jedoch die Wiederaufnahme des "Prozesses" ("procès"), wie der Weg zur Separation Kataloniens kurz genannt wird, ermöglicht. Sie soll innerhalb von 18 Monaten verwirklicht werden. Jedoch sind die weiteren Schritte noch keineswegs klar, auch wenn einige Gesetzesvorhaben angekündigt sind, und so können jederzeit jähe und unerwartete Wendungen eintreten - zumal inzwischen auch das spanische Parlament neu gewählt wurde, was ebenfalls zunächst keine neue Regierungsmehrheit erbracht hat. Dies verschafft der katalanischen Regierung sicherlich einen gewissen Freiraum. Doch andererseits sind die jedweder katalanischen Unabhängigkeit prinzipiell ablehnend gegenüberstehenden Parteien im spanischen Parlament, bei allen sonstigen Gegensätzen, weiterhin dominierend, wobei nur die neue Linkspartei Podemos eine Ausnahme macht, die, wenn auch keine Befürworterin der Unabhängigkeit, zumindest für das "Recht zu bestimmen" ("dret a decidir") eintritt, d.h. für ein Referendum in Katalonien.
Im Rezensionsjournal "sehepunkte" sind bereits mehrere Arbeiten über den Stimmungswandel in Katalonien seit 2005 und dessen Hintergründe besprochen worden. [1] Bis dahin wurde das Ziel der Unabhängigkeit nur von einer vergleichsweise kleinen Minderheit vertreten. Die dominierende politische Kraft [2], das liberal-christdemokratische Bündnis Convergència i Unió (CiU - Konvergenz und Union), gestaltete das nach dem Ende der Franco-Diktatur verabschiedete Autonomiestatut aus. Eine Reihe von Ursachen war dann für den Meinungsumschwung verantwortlich. Ein neues Autonomiestatut mit weitergehenden Rechten, per Volksabstimmung in Katalonien nach mühsamen Verhandlungen angenommen, wurde in Madrid, im spanischen Parlament und vom Verfassungsgericht, beschnitten. Vor allem aber machten sich die Auswirkungen der Finanzkrise ab 2010 bemerkbar. Die Kosten der Bankenrettung und die damit verbundenen Haushaltskürzungen wurden zu einem Gutteil auf die autonomen Regionen abgewälzt, was insbesondere in Katalonien zu starken Einschnitten führte. Die Regierung der CiU setzte sie zwar um, verlangte aber nun von Madrid einen höheren Anteil an den in Katalonien, dem industriellen Herzen Spaniens, erhobenen Steuern, die überproportional abfließen würden, wie eine "Fiskalbilanz" zwischen Madrid und Barcelona zeige. Zusammen mit einer traditionell antikatalanischen Propaganda, wie sie schon seit dem Aufkommen des katalanischen Nationalismus im 19. Jahrhundert nicht untypisch ist, schuf das ein explosives Gemisch. Die CiU, die bis dahin für die Autonomie eingetreten war, sprach sich nun für die Unabhängigkeit aus. Es kam zu Massendemonstrationen und Kundgebungen mit einer Million Teilnehmern oder mehr, getragen allerdings von zivilgesellschaftlichen Organisationen. Umfragen ergeben seitdem eine Mehrheit für die Unabhängigkeit oder zumindest deren Befürwortung nahe an der Mehrheit.
Die erste der hier vorzustellenden englischsprachigen Neuerscheinungen hat diese aktuelle Dynamik im Blick. Sie geht auf eine interdisziplinäre internationale Tagung an der Universität Bayreuth im Mai 2014 zurück, auf der die Funktionsfähigkeit einer katalanischen Unabhängigkeit und nicht zuletzt die Möglichkeiten eines Wegs dahin untersucht wurden. Mit anschließenden Aktualisierungen bildet der Sammelband das Geschehen bis Frühjahr 2015 ab. Herausgegeben von den Föderalismusforschern Klaus-Jürgen Nagel, Politologe an der Universität Pompeu Fabra in Barcelona, und Stephan Rixen, Jurist an der Universität Bayreuth, werden in dreizehn Beiträgen verschiedene Aspekte einer katalanischen Unabhängigkeit erörtert. Den Auftakt bildet allerdings ein historischer Überblick, in der die Entwicklung des katalanischen Nationalismus von seiner Entstehung als einer lange Zeit auf Autonomie ausgerichteten Bewegung bis zur Unabhängigkeitsbewegung heute nachgezeichnet wird. Dabei werden die parteipolitischen Erscheinungsformen, ihre Gegensätze und Widersprüche, bis hin zu dem Auftauchen überparteilicher Organisationen in den letzten Jahren nachgezeichnet und die heutigen Chancen erörtert. [3]
Die weiteren Beiträge befassen sich mit Aspekten des internationalen und des Verfassungsrechts, mit der Frage, ob und inwieweit es ein "Recht auf Selbstbestimmung" gibt, einschließlich seiner Anwendung auf den Fall Katalonien, und was dazu die spanische Verfassung, aber auch die Verträge der EU sagen. Dabei ist ebenfalls zu berücksichtigen, inwieweit das konkrete Regierungshandeln in Madrid zur Polarisierung beigetragen hat. Weitere Beiträge diskutieren das Verhalten der Immigranten in Katalonien, in deren Reihen sich entgegen mancher Erwartung durchaus auch eine die Unabhängigkeitsforderung unterstützende Strömung entwickelt hat, sowie die Sprachenfrage als konkreter Ausdruck katalanischer Eigenständigkeit. Vielleicht die wichtigste - und mit umstrittenste - Frage in den gegenwärtigen Auseinandersetzungen ist jedoch die Finanzfrage zwischen Barcelona und Madrid. Inwieweit gibt es den hohen Transfer vom besonders reichen Katalonien zum spanischen Zentralstaat? Das ist sicherlich auch die komplizierteste Frage, weil es um die jeweilige Zurechnung von Ausgaben und Einnahmen geht, wobei die Autorin dieses Beitrags, Dekanin der Wirtschaftsfakultät an der Universität Barcelona, eine entschiedene Verfechterin dieser These ist und dafür umfangreiche statistische Angaben anführt, aus denen auch die ökonomische Lebensfähigkeit eines unabhängigen Staates errechnet wird.
Ergänzung findet der "katalanische Fall" durch eine Reihe von europäischen Vergleichen (Belgien, Großbritannien bzw. Schottland). Doch stellt sich hier die Frage, ob nicht jede Situation spezifisch ist und allgemeingültige Aussagen überhaupt gemacht werden können. Ein weiterer Beitrag wirft die Frage nach den Konsequenzen einer katalanischen Unabhängigkeit für Deutschland auf, wobei es schade ist, dass hier nicht auch deutsche Stellungnahmen und Einwirkungen untersucht wurden. Schließlich ist die in Madrid bisher regierende Volkspartei eng mit der CDU verbunden, und Bundeskanzlerin Merkel hat die Unterstützung der spanischen Regierung gegen katalanische Unabhängigkeitsbestrebungen deutlich gemacht, ebenso wie sich die deutschen Parteistiftungen hierzu geäußert haben. Abschließend untersucht einer der Herausgeber, Klaus-Jürgen Nagel, die Argumente für und gegen die Lebensfähigkeit eines unabhängigen Kataloniens und kommt zu einem insgesamt positiven Ergebnis. In ihrem Schlusswort verweisen beide Herausgeber noch einmal auf die schwierige Situation, auch unter der Fragestellung, ob ein solcher Unabhängigkeitsprozess nicht heutzutage anachronistisch erscheinen mag.
Nicht alle Autorinnen und Autoren lassen ihre Zustimmung zu einem Weg in die Unabhängigkeit erkennen. Es werden in einigen Beiträgen auch Gegenargumente präsentiert oder doch große Fragezeichen zu den möglichen Kosten eines solchen Prozesses - nicht nur ökonomische, sondern auch juristische oder demokratische - gemacht. Letztlich ist die Schlüsselfrage sicherlich die nach der konkreten Herbeiführung, also nach der Möglichkeit eines Referendums, das dann einen auch von Madrid notgedrungen akzeptierten Weg eröffnen und eine internationale Legitimität herstellen würde.
Auch der zweite Sammelband britischer, aber auch spanischer oder in Spanien tätiger Forscherinnen und Forscher geht auf eine Tagung zurück (2014 in Barcelona), die im Rahmen eines vom britischen Economic and Social Research Council finanzierten Forschungsprojekts über "dynamics of nationalist evolution in contemporary Spain" stattfand. [4] Die beiden an der Universität Liverpool tätigen Herausgeber des Bandes, der Politikwissenschaftler Richard Gillespie, Autor zahlreicher Arbeiten zur spanischen Politik, und Caroline Gray, die eine Dissertation über die Finanzierungssysteme der katalanischen und der baskischen Autonomie vorbereitet, leiten es. Entsprechend wird hier die Entwicklung in Katalonien in einem Vergleich mit dem Baskenland untersucht, wobei sich dieser allerdings erst aus der Zusammenstellung der Beiträge ergibt, die bis auf eine Ausnahme nur jeweils eines der beiden Gebiete untersuchen. [5]
Kreisen die Beiträge des zuvor besprochenen Sammelbandes im Wesentlichen um die aktuelle Situation, ist in diesem Buch der Blick auf die längerfristigen Entwicklungslinien gerichtet. In der Einleitung von Gillespie geht es allerdings erst einmal um die Gesamtentwicklung beider Nationalismen in den letzten Jahrzehnten, um damit den Rahmen für die Fallstudien zu setzen. Allerdings können diese nicht ohne das Verständnis des spanischen Nationalismus herausgearbeitet werden, und so schließt sich daran zunächst ein Überblick über die Rezentralisierungsbemühungen an, mit denen Madrid auf die ökonomische Krise seit 2010 reagiert hat. Dem folgen zwei Beiträge zum Baskenland, nämlich zu der Frage, wie der baskische Nationalismus auf diese Entwicklung mit einem Plan für die Erlangung der Unabhängigkeit antwortete und welche Auswirkungen dies auf das spezielle Finanzierungsmodell für das Baskenland hatte. Zwei weitere Beiträge wenden sich Katalonien und der Mobilisierungsdynamik dieser Unabhängigkeitsbewegung zu. Gerne hätte man hier auch eine Analyse der ökonomischen Seite gesehen, d.h. des Streits um die "Fiskalbilanz" zwischen Madrid und Barcelona. Der letzte Beitrag vergleicht die beiden in Katalonien und dem Baskenland führenden bürgerlich-nationalistischen, ursprünglich christdemokratisch geprägten Parteien CiU und PNV (Baskische Nationalistische Partei), die allerdings in den letzten Jahren von links her unter Druck geraten sind. Zusätzlich ist mit Podemos eine Kraft entstanden, die bei prinzipieller Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts einen nicht-nationalistischen Ausweg gehen will (allerdings sprechen auch die Sozialisten weiterhin von einer föderalen Lösung, doch ohne dies weiter zu präzisieren).
Die Herausgeber verzichten darauf, besondere Schlussfolgerungen aus den Beiträgen zu ziehen, die über die Einleitung hinausgehen würden. Insgesamt steht hier die Entwicklung der politischen Kräfte und der Mobilisierungen im Vordergrund, während der erste Sammelband sich vor allem auf die Sachfragen, die aus dem katalanischen Unabhängigkeitsanspruch entspringen, konzentriert. Somit ergänzen sich beide Publikationen gut und tragen zum Verständnis eines Problems bei, was auf absehbare Zeit kaum anders lösbar erscheint als auf dem Weg der Konfrontation, wenn nicht im spanischen Staat eine Reihe notwendiger Veränderungen verwirklicht wird. Doch dafür bietet die gegenwärtige ökonomische Krise des Landes keine guten Voraussetzungen.
Anmerkungen:
[1] Rezension zu: Andrew Dowling: Catalonia since the Spanish Civil War. Reconstructing the Nation, Brighton 2013, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 11 [15.11.2013], URL: http://www.sehepunkte.de/2013/11/23275.html; Rezension zu: Kathryn Crameri: 'Goodbye, Spain?'. The Question of Independence for Catalonia, Brighton 2014, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 6 [15.06.2015], URL: http://www.sehepunkte.de/2015/06/26082.html.
[2] Das gilt für die Wahlen zum katalanischen Parlament, während sich bei den Wahlen für das gesamtspanische Parlament in Katalonien traditionell die Linke (Sozialisten und in weitem Abstand davon die Kommunisten bzw. davon abgeleitete Bündnisse) durchsetzen konnte. Ein Teil der Wähler der Linken ging nicht zur Wahl für das katalanische Parlament.
[3] Eine ausführlichere Fassung des Beitrags von Hans-Jürgen Puhle ("Trajectories and functions of Catalan nationalism since the 19th century") findet sich in: Studies on National Movements, Nr. 2, 2014; http://snm.nise.eu/index.php/studies/article/view/0203a/pdf.
[4] Vgl. dazu die Website http://nationalismsinspain.com/.
[5] Einige der für die Buchfassung überarbeiteten Beiträge waren zuvor in der Zeitschrift Nationalism and Ethnic Politics (Nr. 1, 2015) veröffentlicht worden.
Reiner Tosstorff