Rezension über:

Gregor-Sönke Schneider: Keine Kritische Theorie ohne Leo Löwenthal. Die Zeitschrift für Sozialforschung (1932-1941/42) (= Philosophie in Geschichte und Gegenwart; Bd. 5), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2014, XX + 297 S., 1 s/w-Abb., ISBN 978-3-631-64177-4, EUR 55,95
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Rezension von:
Doris Maja Krüger
Berlin
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Doris Maja Krüger: Rezension von: Gregor-Sönke Schneider: Keine Kritische Theorie ohne Leo Löwenthal. Die Zeitschrift für Sozialforschung (1932-1941/42), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2014, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 4 [15.04.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/04/27784.html


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Gregor-Sönke Schneider: Keine Kritische Theorie ohne Leo Löwenthal

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Anliegen der 2012 am Institut für Soziologie der Leibniz Universität Hannover eingereichten und von Detlev Claussen betreuten Dissertation Gregor-Sönke Schneiders ist es, "Löwenthals Beitrag an der Konzeption der Kritischen Theorie im Rahmen der von ihm organisierten Zeitschrift für Sozialforschung" (4) aufzuzeigen.

Bereits 1980 wies Alfred Schmidt im Vorwort des von ihm herausgegebenen Nachdrucks der Zeitschrift für Sozialforschung auf deren zentrale Bedeutung für die Kritische Theorie hin. [1] Indem Schneider also nachweisen möchte, dass es "[o]hne Leo Löwenthals Beitrag [...] keine Zeitschrift für Sozialforschung gegeben [hätte]" (234), will er zugleich die Relevanz Löwenthals für die Kritische Theorie belegen. Mit Verweis auf den "überindividuellen Charakter der Kritischen Theorie" (8) den Beitrag einer einzelnen Person herausarbeiten zu wollen, mag zunächst paradox erscheinen, angesichts der weitgehenden Vernachlässigung, die Löwenthal (wie auch Friedrich Pollock) erfährt, scheint dies jedoch ein notwendiger erster Schritt.

Für Schneiders Anliegen bietet sich die Zeitschrift aus zwei Gründen an: Zum einen kann durch eine Rekonstruktion der Entstehung der einzelnen Ausgaben ihr "Diskussionscharakter" (8) und damit auch die Rolle, die Löwenthal als "leitende[r] Redakteur" (19) hierbei - theoretisch wie praktisch - einnahm, nachgezeichnet werden (Kapitel II und V). Zum anderen kann die inhaltliche Beziehung zwischen den Aufsätzen und Rezensionen Löwenthals und denen der anderen Institutsangehörigen aufgezeigt werden (Kapitel III und IV). Zur Umsetzung dieser Vorhaben greift Schneider nicht nur auf die Beiträge der Zeitschrift zurück, sondern auch auf die Korrespondenz der Institutsmitglieder untereinander sowie auf deren in Gesprächen, Reden und Vorträgen veröffentlichte Erinnerungen.

Die "Notwendigkeit kollektiver Arbeit" (10) wurde von allen Mitarbeitern gesehen und dies nicht erst ex post, wie Schneider unter anderem anhand der Antrittsvorlesung Max Horkheimers (1931) und eines Aufsatzes Pollocks über die gegenwärtige Lage des Kapitalismus aus dem ersten Jahrgang der Zeitschrift (1932) aufzeigt. Zudem wurde "mehrfach von 'Wir' oder 'Uns' anstatt von 'Ich' gesprochen" (12), und dies nicht nur in den ersten Jahren der Zeitschrift, oder von Horkheimer und Pollock, sondern in nahezu allen Jahrgängen und auch von Herbert Marcuse, Erich Fromm und Leo Löwenthal. Dass es sich hierbei nicht nur um eine Sprachregelung handelte, zeigt der Produktionszusammenhang der Zeitschrift: "Gespräche und Diskussionen zwischen den Mitarbeitern stellten den Anfang der Arbeit dar." (28) Auch wurde diese erst gedruckt, "wenn jeder sie gelesen und kritisiert hatte" (17), wobei die Kritik "Inhalt wie auch Sprache" (23) galt. Insofern handle es sich bei der Zeitschrift um "eine institutsunabhängige Institution, da in ihr kollektiv und selbstständig an einer Theorie der Gesellschaft gearbeitet wurde." (8)

Von diesem "gemeinsame[n] Aushandeln und Diskutieren von ganzen Texten" (34) zeugt auch die Korrespondenz der Institutsmitglieder, die durch die räumliche Entfernung im Exil deutlich zunahm. Diese Korrespondenz stellt eine wertvolle Quelle gegen den Vorwurf dar, "Geld als Druckmittel" (29) eingesetzt und so nicht nur auf Arbeiten Einfluss genommen zu haben, sondern auch eine Mitschuld am Tod Walter Benjamins zu tragen. [2] So belegt Schneider anhand der Briefe, die Löwenthal mit Benjamin über dessen Fuchs-Aufsatz wechselte, und denen, die er mit Adorno über dessen Jazz-Aufsatz schrieb, dass Änderungen und Streichungen stets den Autoren nur vorgeschlagen und gegebenenfalls revidiert wurden. Angesichts dessen werde "die Absurdität des Vorwurfes der Erpressung und der politischen Zensur deutlich." (35)

Gegen diese "üble Nachrede" (29) wendet sich Schneider auch im fünften Kapitel seiner Arbeit, in dem er die Bedeutung der Zeitschrift für Sozialforschung als "Zeitschrift des Exils" (236) für die materielle und intellektuelle Flüchtlingshilfe betont. Insbesondere der von Löwenthal organisierte, umfangreiche Rezensionsteil stellte einen "Ersatz für die verlorengegangene Öffentlichkeit" (236) der Emigranten dar und bot eine "Verdienstquelle [...], die mithalf das persönliche (Über-)Leben zu sichern." (236) So wurden auch Aufsätze und Rezensionen vergütet, die nicht in der Zeitschrift abgedruckt werden konnten.

Der Anteil Löwenthals an der Zeitschrift ging weit über die Koordination des Besprechungsteils hinaus, was seine umfangreiche Korrespondenz mit Horkheimer sowie mit Verlagen und Druckereien belegt. Vom ersten Heft bis zur letzten Ausgabe stellte die Herausgabe der Zeitschrift "seine wichtigste Aufgabe" (234) dar und diese reichte von der "inhaltlichen Konzeption der jeweiligen Hefte und [der] damit verbundene[n] Auswahl und Diskussion von Beiträgen und Autoren" über die Klärung von "technischen Frage wie bzgl. des Layouts" bis hin "zum Einhalten der Veröffentlichungstermine" (235).

Außerdem wird dies durch Löwenthals eigene Beiträge belegt, denen sich Schneider im dritten und vierten Kapitel im Zusammenhang mit den Arbeiten der anderen Institutsmitglieder widmet. So finde sich nicht nur in Löwenthals programmatischem Aufsatz "Zur gesellschaftlichen Lage der Literatur" (1932) der von Horkheimer in seiner Replik auf Karl Mannheim zwei Jahre zuvor skizzierte Ideologiebegriff wieder. Horkheimers späterer Aufsatz "Zum Problem der Wahrheit" (1935) lese sich teilweise "wie eine Fortschreibung" (60) dieses Beitrags Löwenthals. Zudem sieht Schneider in Löwenthals literatursoziologischen Arbeiten, in denen dieser den "gesellschaftliche[n] Anteil an dem individuellen Werk sowie die Wirkung des Werkes in der Gesellschaft" (99) analysierte, eine Umsetzung der Forderung Erich Fromms nach einer "sozialpsychologisch orientierten Ideologieforschung" (99).

Löwenthals Arbeiten zur Kritik der Populärbiografie erschienen zwar nicht in der Zeitschrift, sie sind jedoch in diesem Kontext zu betrachten. So entsprechen die Erkenntnisse Löwenthals, "z.T. den Erkenntnissen von Adornos Betrachtung der Musik in der Massenkultur" (150). Zusammen mit seiner Rezension zu "International Who's Who" sind sie als Beitrag zur Kulturindustriekritik zu sehen: "Löwenthals Kritik zur Pseudoindividualität in der Massenkultur korrespondiert mit Arbeiten von Horkheimer, Marcuse und Fromm." (109)

Anhand unzähliger Textbelege vor allem aus der Zeitschrift für Sozialforschung, rekonstruiert Schneider "den bedeutenden Anteil" (XVIII) Löwenthals an der Kritischen Theorie, wie der Nachlassverwalter, Peter-Erwin Jansen, in seinem Vorwort zu Recht bemerkt. Denn Schneider gelingt es aufzuzeigen, dass Löwenthal "[...] einen empirischen Beleg anhand der künstlerischen Literatur für das [leistet], was andere Autoren der Zeitschrift in anderen Zusammenhängen oder Gegenständen beschrieben" (108). Und dies, so möchte man den Herausgeber der von Alfred Schmidt begründeten und von Michael Jeske fortgeführten Reihe "Philosophie in Geschichte und Gegenwart" zitieren, "ohne dass dadurch die tragende Rolle Max Horkheimers oder die Bedeutung der exponierten Beiträge der übrigen Theoretiker [...] geschmälert" (XII) werde. Mitunter schlägt Schneiders Anliegen, den Texten Löwenthals die ihnen gebührende Beachtung zukommen zu lassen, in eine Gegenüberstellung von Textauszügen um, die für sich selbst sprechen sollen. Inwiefern dies dem Umstand geschuldet ist, dass man sich nicht selten dafür rechtfertigen muss, über Löwenthal zu arbeiten, vermag allein der Autor zu beantworten. Angesichts der weitgehenden Nichtbeachtung, die Löwenthals Werk in der Rezeption der Kritischen Theorie erfährt, tut dies jedoch Schneiders Anliegen keinen Abbruch. Es gelingt ihm, überzeugend darzustellen, dass man sich auch den Texten Leo Löwenthals widmen darf und sollte.


Anmerkungen:

[1] Vgl.: Alfred Schmidt: Die "Zeitschrift für Sozialforschung". Geschichte und gegenwärtige Bedeutung; in: Zeitschrift für Sozialforschung. Jahrgang 1 (1932), hg. von Max Horkheimer, München 1980, 5-63.

[2] Insbesondere Hannah Arendt beschuldigte die Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung, allen voran Adorno, Benjamin verraten zu haben und persönlich für seinen Tod verantwortlich zu sein. Vgl.: Lars Rensmann / Samir Gandesha: Understanding Political Modernity. Rereading Arendt and Adorno in Comparative Perspective; in: Arendt and Adorno. Political and Philosophical Investigations, ed. by Lars Rensmann / Samir Gandesha, Stanford 2012, 1-30, hier 5.

Doris Maja Krüger