Gerald Stourzh: Die moderne Isonomie. Menschenrechtsschutz und demokratische Teilhabe als Gleichberechtigungsordnung. Ein Essay, Wien: Böhlau 2015, 182 S., ISBN 978-3-205-20095-6, EUR 35,00
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Kein Begriff ist tiefer im Wertesystem der westlichen Gesellschaften verankert als der der Demokratie. Es mag deshalb auf den ersten Blick vermessen erscheinen, einen Angriff auf diesen Begriff zu unternehmen und ihn durch den Begriff der "modernen Isonomie" zu ersetzen, so wie es dieser Essay tut. Doch der vorliegende Versuch ist gut begründet, und er führt zudem tief hinein in die Geschichte der Begriffe von Demokratie und Grund- und Menschenrechten. Zusätzlich legitimiert wird der Versuch dadurch, dass schon der niederländische Historiker Johan Huizinga ihn in einem 1943 geschriebenen Buch zur intensiveren Verwendung empfahl. Er baut zudem auf einer ganzen Reihe wichtiger Beiträge des Verfassers zur Geschichte der Menschen- und Freiheitsrechte auf und kann insofern gleichsam als eine Summe seiner einschlägigen Arbeiten betrachtet werden. Der Begriff der Isonomie ist natürlich aus der griechischen Politiktheorie bekannt und wird hier nach Christian Meier verstanden als "Gleichberechtigungsordnung", einer Ordnung also, die auf den Aspekt der gleichen Rechtsposition von Personen hinweist, während der Demokratiebegriff den Herrschaftsbegriff des Volkes in den Vordergrund rückt. Meier hat dies in der wichtigen Unterscheidung vom "nomistischen" und "kratistischen" Charakter der Begriffe verdeutlicht. Der Demokratiebegriff ist durch die enorme Wirksamkeit der aristotelischen Staatsformenlehre eindeutig in den Vordergrund aller Begriffsbildungen gerückt, ja er dominiert den öffentlichen Diskurs. Um seinen evidenten Schwächen abzuhelfen, wird immer wieder mit ergänzenden Zusatzbegriffen - wie etwa liberale Demokratie oder Grundrechtsdemokratie - gearbeitet (dazu vor allem 63 ff.), genau hier setzt der Essay an.
Der Essay ist in insgesamt fünf Teile gegliedert: Abgesehen von der Einleitung (I) und einer Conclusio (V) umfasst er drei Hauptteile, von denen die beiden ersten ("Isonomie in der griechischen Antike") (II) und "Abstufungen. Hierarchie im Diesseits und im Jenseits" (III) als eher historisch argumentierend bezeichnet werden können, während der argumentative Hauptteil ("Angleichungen: Wege zu Modernen Isonomie" (IV) als theoretisch- systematischer Teil betrachtet werden kann, ohne freilich der historischen Sättigung zu entbehren. "Abstufungen" und "Angleichungen" bilden die beiden begrifflichen Achsen, um die herum sich der Gedanke der Gleichheit der Person negativ wie positiv gruppieren lässt.
Das erste Kapitel ist folgerichtig der Herkunft des Begriffs und seiner Verwendung in der Antike gewidmet, wo vor allem die entscheidende Verwendung bei Herodot und seine Kennzeichnung der Isonomie als der "schönste Name von allen" herausragt (um 430 v. Chr.). Hervorzuheben ist, dass Isonomie durchaus einmal als Vorläuferbegriff zu Demokratie verwendet wurde. Das zweite Kapitel ist kein chronologischer Durchgang durch die vorrevolutionäre Geschichte Europas im Hinblick auf die Grundrechtsentwicklung, sondern eher ein " discours raisonné" durch die bislang vorgetragenen wissenschaftlichen Positionen zum hier behandelten Thema. In Anlehnung an den Begriff der "ordo"-Welt der "Abstufungen" werden jene Faktoren genauer untersucht, die bis zur "Sattelzeit" zwischen 1750 und 1850 wichtige Elemente späteren Grundrechtsdenkens vorbereitet haben. Stourzh tut das in kenntnisreicher Auseinandersetzung mit wichtigen Positionen auf diesem Gebiet (etwa Otto Brunner oder Max Weber). Gelenkt durch Schlüsselstellen aus Tocquevilles zweitem Band über die amerikanische Demokratie von 1840 entdeckt er auch im hierarchischen Zeitalter immer wieder "denkwürdige Ausbrüche ursprünglicher Gleichheit", so etwa im Sachsenspiegel, dem englischen Bauernaufstand von 1381, den Zwölf Artikeln der aufständischen Bauern, im Sonderfall der frühen englischen Verfassungsdiskussion oder in dem, was er nach dem amerikanischen Politikwissenschaftler Douglas W. Rae "segmented equalities" nennt, etwa im Bereich der klösterlichen oder städtischen Welt. Ebenso bedeutsam erscheinen dem Verfasser hier die unterschiedlichen christlichen Erlösungsvorstellungen. Immer wieder überrascht in diesem Kapitel die Breite der kritischen Literaturverarbeitung, in der auch zuweilen persönliche Hinweise auf die besondere Wertschätzung bestimmter Autoren eingeflochten werden. Hier nutzt der Essay die Vorteile dieses literarischen Formats.
Den Beginn der politisch-rechtlichen Moderne (IV) charakterisiert Stourzh mit den Texten von Thomas Paine ("Common Sense", 1776) und Emanuel Sieyes ("Was ist der dritte Stand?",1789). Paines Grundsatz ("That in America the LAW IS KING") steht ebenso wie Sieyes Antwort auf seine Frage nach dem Dritten Stand für ein Grundproblem, das in Zukunft Demokratie- und Isonomieverständnis bestimmen sollte, nämlich die neu erkannte verfassungsgebende Macht des Volkes auf der einen Seite und zum anderen der unverzichtbare Schutz der Menschen- und Bürgerrechte. Trotz mancher Übereinstimmungen zwischen der Virginia Bill of Rights von 1776 und der französischen Rechteerklärung von 1789 betont Stourzh zu Recht deren unterschiedliche Legitimationsbasis: Auf der einen Seite die durch Blackstone vermittelte Tradition der englischen Bürgerrechte, auf der anderen Seite der vollständige Bruch mit der Vergangenheit, die Hinwendung zur naturrechtlichen Begründung der Rechte.
Nach einem kurzen Teil, in dem Stourzh die durch adjektivische Bestimmungen verunklarte Position des Demokratiebegriffs skizziert (etwa liberale vs. illiberale Demokratie, totalitäre oder partielle Demokratie, Grundrechtsdemokratie) entwickelt er dann in sechs Teilschritten die Grundelemente der modernen Isonomie. Darunter werden verstanden die allgemeine Rechtsfähigkeit, die Gleichheit vor dem Gesetz, die Entwicklung der Grundrechte, der Grundrechtsschutz als Teil der Verfassungsgerichtsbarkeit, die Internationalisierung von Grundrechten als Menschenrechten und schließlich die Demokratie selbst. Besonders hervorzuheben ist die in den Vereinigten Staaten schon sehr früh begonnene Sicherung der Grundrechte durch ein Oberstes Gericht, während in Europa dies erst im späteren 19. und überwiegend dann im 20. Jahrhundert realisiert werden konnte, wenn man einmal vom Sonderfall Großbritannien absieht. Die Lektüre dieser unterschiedlich langen Unterkapitel ist historisch gesättigt und voll von Hinweisen auf z.T. unbekannte oder zumindest wenig beachtete Details der Rechtsentwicklung. So etwa der Hinweis auf den nicht realisierten "jury constitutionnaire", den Sieyes in die Verfassung des Jahres III einfügen wollte, damit aber an der Mehrheit der Versammlung scheiterte. Dieser Vorgang ist deshalb besonders zu erwähnen, weil sich hier die mögliche Kollision der beiden "Grundsäulen" der Legitimation demokratischer Herrschaftsordnungen in aller Klarheit zeigt. Schon Locke hatte dieses Problem erkannt, dafür aber keine handhabbare Lösung außer dem Eingreifen Gottes gefunden.
Hier liegt letztlich auch der systematische Grund für die isonomische Initiative des Verfassers. Schon vor 40 Jahren hat er in einem Beitrag auf die Bedeutung von "participation and protection" als den beiden tragenden Elementen jeder Herrschaftsordnung hingewiesen, noch bevor Jürgen Habermas diesen Gedanken in seiner Koppelung der "Legitimationssäulen politischer Herrschaft, Demokratie und Menschenrechte" breitere Anerkennung verschaffte. Bei Gerald Stourzh kommt zu diesem systematischen Argument aber noch ein persönliches hinzu. Es ist zum einen das Andenken an seinen Vater Herbert Stourzh, der sehr früh (1934) unter einem Pseudonym die totalitären Ansprüche der Volksidee angriff und den Nationalsozialismus ahnungsvoll als "Nationalbestialismus" bezeichnete. Zum anderen ist es die lebendige Erinnerung an seine Studienzeit an der University of Chicago, die ihn zur intensiven Beschäftigung mit den Gründervätern der amerikanischen Verfassung und deren Denken führte. Grund- und Menschenrechte sind zu seinem Lebensthema geworden, dieser Essay profitiert davon in besonderer Weise. 1970 hat Stourzh in seinem Buch über Alexander Hamilton dessen Bewertung der Demokratie als "the real disease" zitiert, dieser Essay scheint davon beeinflusst.
Einen solchen "kühnen" Essay schreibt man nur in der festen Überzeugung von der Richtigkeit der bisherigen Entwicklung demokratischer Herrschaft und ihrer Erweiterung um den Gedanken der Grund- und Menschenrechte. Man kann ihn aber auch nur schreiben auf der Grundlage einer lebenslangen Beschäftigung mit diesen Fragen und auch im Bewusstsein der eigenen Bescheidenheit, mit einem solchen Essay bestenfalls eine Diskussion anstoßen zu wollen, die gewiss noch länger andauern wird. Stourzh begnügt sich damit, "die im Jahre 1943 von Johan Huizinga gegebene Anregung "aufgegriffen, ausgearbeitet und weitergegeben zu haben". Angesichts der internationalen Passfähigkeit des Begriffs der Isonomie, der möglichen Schwierigkeiten der Bestimmung des "demos" und nicht zuletzt gewisser Abnützungserscheinungen des Demokratiebegriffs spricht vieles dafür, den Gedankengang von Gerald Stourzh aufzugreifen.
Winfried Schulze