Elke Schlenkrich: Gevatter Tod. Pestzeiten im 17. und 18. Jahrhundert im sächsisch-schlesisch-böhmischen Vergleich (= Quellen und Forschungen zur sächsischen Geschichte; Bd. 36), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2013, 491 S., ISBN 978-3-515-10620-7, EUR 86,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
Seuchengeschichten sind allgegenwärtig. Insbesondere die Geschichte des "Schwarzen Todes" in der Mitte des 14. Jahrhunderts und seine Verknüpfung mit den zeitgleichen Judenpogromen faszinieren seit Frantisek Graus' einschlägigen Arbeiten seit den 1980er Jahren die Sozialgeschichte. Im Zusammenhang mit HIV/AIDS, anschließend BSE ist seit Mitte der 1980er Jahre bis heute (zur Zeit etwa Ebola, aber auch Grippe und Masern 2015) und vermutlich auch die kommenden Jahre Katastrophenberichterstattung über Seuchengeschehen tagesaktuelles Nachrichtenprogramm. Die Beliebtheit von Seuchengeschichten mag über die somit vergleichsweise umstandslos zu behauptende Aktualität des Themas schließlich damit zusammenhängen, dass sie das klassische Fortschrittsnarrativ von der Überlegenheit der modernen Medizin sowohl fortschreiben als auch, etwa den Spuren von Martin Dinges und Thomas Schlich folgend [1], fundamental in Frage stellen können.
Durchaus weniger beachtet war in diesem Zusammenhang über lange Zeit die Epoche der Frühen Neuzeit, die angesichts der umfangreichen Archivbestände sinnvollerweise in stadt- und regionalhistorischen Studien aufgearbeitet wird. Die hier zu besprechende Arbeit gehört damit in eine Reihe, die zuletzt die Dissertationen von Carl Christian Wahrmann [2] und Patrick Sturm [3] hervorgebracht hat. Insofern wird man inzwischen kaum mehr von einem Forschungsdesiderat der Frühneuzeitforschung sprechen dürfen.
Wie die vorigen handelt es sich auch bei der zu besprechenden Arbeit von Elke Schlenkrich um eine Qualifikationsarbeit, hier allerdings um die 2007 an der Frankfurter Viadrina vorgelegte Habilitationsschrift. Die Autorin knüpft damit hinsichtlich der sozialhistorischen Methode, dem medizinhistorischen Arbeitsbereich und der Unmasse der insbesondere in sächsischen Archiven bearbeiteten Quellen nach an ihre 2002 im Druck vorgelegte krankenhaushistorische Studie [4] an. Erneut beeindruckt die umfassend recherchierte und ausgewertete Quellenbasis, insbesondere für den sächsischen Raum. Behandelt werden alle gängigen Fragen der Pestforschung von der Demografie über die ökonomischen und sozialen Auswirkungen, (obrigkeitliche) Maßnahmen, Lazarette und medizinisches Personal, Aspekte des gestörten Alltagslebens, religiösen Alltag bis hin zu einem gesonderten kurzen Kapitel über die Pest auf dem Lande. Im Zentrum stehen die sächsischen Verhältnisse, und hier wiederum diejenigen in Dresden und Leipzig, während der großen Epidemie der 1680er Jahre. Auf dieser Folie werden die Verhältnisse in kleineren Städten und auf dem Lande, in Schlesien und Böhmen (insbesondere freilich in Prag), sowie die hinsichtlich des Umgangs mit den späteren Pestgängen im frühen 18. Jahrhundert zu konstatierenden Entwicklungen minutiös nachgezeichnet.
Während die Stärken in der quellengesättigten Darstellung der zentralen Punkte und Entwicklungen liegen, sind Schwächen noch am ehesten in der konzeptionellen Ausrichtung beziehungsweise der Umsetzung dieser Ausrichtung festzumachen. Dass die großen Seuchenzüge Behördenaktivitäten und intensivierte Verordnungstätigkeit zur Folge hatten, ist erst einmal ebenso wenig überraschend wie der Umstand, dass einschlägige Verordnungen regelmäßig übertreten wurden. Im Sinne einer "Hinwendung zu den Subjekten der Geschichte" (32) wäre es dagegen durchaus reizvoll, von dem Dualismus obrigkeitliche Pestmaßnahmen versus individuelle Übertretung abzusehen, um Letztere nicht ausschließlich auf Reaktionen auf Erstere zu reduzieren. Wäre nicht gerade die Differenzierung zwischen den Reaktionen auf die drohende Erkrankung einerseits und denjenigen auf obrigkeitliche Maßnahmen (zum Beispiel die Verschließung) andererseits im Sinne der "Wahrnehmungen, Erfahrungen und Wünsche [der Subjekte]" (ebenda) ein Erfolg versprechender Ansatz? Zahllose und in diesem Umfang und in dieser Dichte bislang kaum zusammengetragene "Mikrogeschichten" fristen so ein etwas trauriges Dasein in den Fußnoten der Arbeit, während der Haupttext die sächsischen Details für im Großen und Ganzen bereits vertraute historische Entwicklungen ausbreitet. Regionalhistorisch wäre ergänzend eine Perspektive von Interesse gewesen, die neben Differenzen in den Details der Verordnungstätigkeit und der einzelnen Erlasse durch die verschiedenen Obrigkeiten "Seuche" als raumbildendes Element von der privaten (Verschließung der Häuser) über die Siedlungsebene (militärische Absperrung von Dörfern und Städten) bis zu Territorialgrenzen (verstärkte Grenzkontrollen) und Wirtschaftsräumen sowie die mannigfaltigen Überschreitungen in den Blick nimmt.
Von großem Wert ist die 40-seitige, dem Band angehängte Quellenedition, die auch der Form nach vorbildlich ist. Sie ermöglicht nicht allein einen Blick in die "Werkstatt der Historikerin", sondern eröffnet das Themenfeld überdies dem (universitären) Unterricht anhand von Originalquellen und bietet im gleichen Themenbereich, aber zu unterschiedlichen Epochen und/oder Regionen arbeitenden Kolleginnen und Kollegen die willkommene Möglichkeit, am Originalmaterial vergleichende Beobachtungen anzustellen. An Gevatter Tod wird in den nächsten Jahren niemand vorbei kommen, der sich für Sozial- und Armuts-, Medizin- und Seuchengeschichte sowie sächsische Regionalgeschichte der Frühen Neuzeit interessiert.
Anmerkungen:
[1] Martin Dinges / Thomas Schlich (Hgg.): Neue Wege in der Seuchengeschichte, Stuttgart 1995.
[2] Carl Christian Wahrmann: Kommunikation der Pest. Seestädte des Ostseeraums und die Bedrohung durch die Seuche 1708-1713, Berlin 2012.
[3] Patrick Sturm: Leben mit dem Tod in den Reichsstädten Esslingen, Nördlingen und Schwäbisch Hall. Epidemien und deren Auswirkungen vom frühen 15. bis zum frühen 17. Jahrhundert, Ostfildern 2014.
[4] Elke Schlenkrich: Von Leuten auf dem Sterbestroh. Sozialgeschichte obersächsischer Lazarette in der frühen Neuzeit, Beucha 2002.
Fritz Dross