Moritz Hoffmann: Als der Krieg nach Hause kam. Heute vor 70 Jahren: Chronik des Kriegsendes in Deutschland, Berlin: Ullstein Verlag 2015, 256 S., ISBN 978-3-549-07462-6, EUR 16,99
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Christian Packheiser: Heimaturlaub. Soldaten zwischen Front, Familie und NS-Regime, Göttingen: Wallstein 2020
Etienne Schinkel: Holocaust und Vernichtungskrieg. Die Darstellung der deutschen Gesellschaft und Wehrmacht in Geschichtsschulbüchern für die Sekundarstufe I und II, Göttingen: V&R unipress 2018
Johannes Hürter / Thomas Raithel / Reiner Oelwein (Hgg.): »Im Übrigen hat die Vorsehung das letzte Wort «. Tagebücher und Briefe von Marta und Egon Oelwein 1938-1945, Göttingen: Wallstein 2021
Miriam Gebhardt: Als die Soldaten kamen. Die Vergewaltigung deutscher Frauen am Ende des Zweiten Weltkriegs, 2. Auflage, München: DVA 2015
Lars Lüdicke: Hitlers Weltanschauung. Von »Mein Kampf« bis zum »Nero-Befehl«, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2016
Ian Kershaw: Das Ende. Kampf bis in den Untergang - NS-Deutschland 1944/45, München: DVA 2011
Florian Huber: Kind, versprich mir, dass du dich erschießt. Der Untergang der kleinen Leute 1945, 4. Auflage, Berlin: Berlin Verlag 2015
Cornelius Ryan: Der letzte Kampf. Aus dem Amerikanischen von Helmut Degner. Mit einer neuen Einführung von Johannes Hürter, Stuttgart: Theiss 2015
Gezwitscherte Geschichte - kann man komplexe Ereignisse wie die Endphase des Zweiten Weltkriegs in 140 Zeichen erzählen? Warum nicht, mag man sagen, wenn sich doch ganze Doktorarbeiten (mehr oder weniger) treffend auf 140 Zeichen zusammenstauchen lassen? [1] In diesem Fall steckt dahinter jedoch das seriöse Anliegen, der historischen Erkenntnisvermittlung neue Zielgruppen zu erschließen. Unter Federführung von Moritz Hoffmann, der sich als Doktorand mit Public History befasst, hat ein Team von Absolventen historischer Studienfächer anlässlich des jeweils 70. Jahrestages Ereignisse der letzten Tage des "Dritten Reiches" im Kurznachrichtenstil getwittert. [2] Dass zuletzt immerhin 11.500 Interessierte den täglichen Tweets folgten, darf man getrost als Erfolg werten.
Freilich: Der "Folgen"-Button ist schnell geklickt. Genauso schnell aber sind die 140 Zeichen einer Twitter-Nachricht gelesen. Ganz so eng haben es die Macher und Macherinnen indes nicht gesehen, und regelmäßig mehr als einen Tweet pro Tag und Ereignis an die Nutzer verschickt. Trotzdem - die mundgerechten Informationshäppchen entsprechen den Lesegewohnheiten der Zielgruppe, und sind im besten Fall geeignet, die Neugier zu wecken. Als Medium der Geschichtswissenschaft (samt den damit einhergehenden strengen Belegansprüchen etwa) darf das natürlich nicht missverstanden werden, auch wenn die Autoren erfreulicherweise bemüht waren, ihre getwitterten Ereignisse abzusichern und zumindest nachträglich für Quellentransparenz zu sorgen. Das ist auch für ihr eigentliches Anliegen sinnvoll und notwendig, soll es seriös betrieben werden: Es geht um Geschichtsvermittlung. Dass dem Medium mit seiner Collage an Kurzmeldungen auch dabei Grenzen gesetzt sind, war den Verantwortlichen offenbar bewusst: Deshalb bieten sie dem neugierig gewordenen Twitterbenutzer in einem Begleitbuch weiterführende Informationen.
In diesem vergleichsweise altmodischen Medium greifen sie mehrere Querschnittsthemen auf, die eine alltagshistorische Perspektive auf die Endphase des NS-Regimes eröffnen und sich auf das Erleben der "kleinen Leute" konzentrieren soll. Diesem Leitkonzept folgten auch schon die Tweets, und so ist eine Verknüpfung möglich: Die Ereignisse, die den Tweets zugrunde liegen, lassen sich immer wieder in den einzelnen Kapiteln wiederfinden; dort wiederum kann man mehr über die in den Meldungen nur knapp angerissenen Vorgänge und deren historischen Kontext erfahren. Dreizehn Abschnitte sind so unterschiedlichen Themen wie dem militärischen Vormarsch der alliierten Truppen, der Befreiung von Auschwitz, der Ernährungslage, den Frauen oder dem Kino gewidmet. Ungenauigkeiten und sachliche Fehler bleiben im überschaubaren Rahmen. Die sicherlich notwendige Verkürzung mündet allerdings manchmal in unzulässige Vereinfachung, etwa wenn im Kapitel "Der Krieg auf dem Land" die Wahlerfolge der NSDAP recht pauschal darauf zurückgeführt werden, dass die ländliche Bevölkerung "religiöser, schlechter informiert und weniger politisiert" gewesen sei, und ihr im Gegensatz zu den "immunisierten" Sozialisten in den Städten "eine starke weltanschauliche Alternative" (201) gefehlt habe.
Insgesamt ist die Qualität der Kapitel ordentlich - vor allem jenseits der knappen Hinführungen, die in äußerster Kürze teils bis in die Weimarer Zeit zurückgreifen. Danach zeitigt die gewählte Collagetechnik (inspiriert von Büchern wie "Der letzte Kampf" von Cornelius Ryan) gut zu lesende, historisch insgesamt solide Ergebnisse. Die zu begrüßende Idee, die interessierte Zielgruppe anhand der Tweets abzuholen und ihr weiterführende, gut aufarbeitete Informationen anzubieten, ist durchaus geglückt - auch wenn man vermuten darf, dass gänzlich geschichtsferne Personen auch die Twitternachrichten links liegen lassen dürften.
Anmerkungen:
[1] lol my thesis. Summing up years of work in one sentence, URL: http://www.lolmythesis.com.
[2] Heute vor 70 Jahren, URL: https://twitter.com/digitalpast, @digitalpast. Dabei handelt es sich um ein Nachfolgeprojekt von @9Nov38 anlässlich des 75. Jahrestages des Pogroms von 1938 (URL: http://digitalpast.de/category/9nov38/). Eine Chronik der letzten Kriegstage gab es anlässlich des 60. Jahrestags des Kriegsendes 2005 in analoger Form: Christian Hartmann / Johannes Hürter: Die letzten 100 Tage des Zweiten Weltkriegs, München 2005.
Sven Keller