Gunnar Decker: 1965. Der kurze Sommer der DDR, München: Carl Hanser Verlag 2015, 493 S., einige s/w-Abb., ISBN 978-3-446-24735-2, EUR 26,00
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Ein Buch zum Jahr 1965 in der DDR war fällig. Das musste von (Schön)Geist und Macht, Emanzipation und Ideologie, Reformwillen und -unvermögen im Staatssozialismus handeln. Mitte der 1960er Jahre kam in der DDR vieles in Bewegung, ein Höhepunkt war das 11. ZK-Plenum der SED. Das heute so genannte "Kahlschlag-Plenum" vom Dezember 1965 gilt als der massivste Affront stalinistischer Kräfte in der SED gegen experimentierfreudige, kritische Künstler, als ein Feldzug der Verleumdung und spießerhaften Einfalt, das deutlichste öffentliche Zeugnis parteibürokratischer Anmaßung in der DDR-Erziehungsdiktatur, von Erich Honecker gegen Walter Ulbrichts Reformkonzept politisch inszeniert. Der Philosoph und literaturhistorisch arbeitende Publizist Decker, Jahrgang 1965, kennt sich aus in der DDR-Kunstszene. Im Kampf "Funktionäre gegen Intellektuelle" sieht er 1965 als "das Schicksalsjahr", macht es zur entscheidenden Zäsur für das sozialistische Experiment in Ostdeutschland überhaupt. Diese Wertung ist nicht neu, Decker will sie historisch herleiten und kunstgeschichtlich einbetten. Als Motto wählt er Fritz Cremers Bronzeplastik "Aufsteigender" (1966/67), eine Allegorie beladenen Strebens zu Höherem, wenn in der endlosen Anstrengung alle Zuversicht schwindet.
In Auslegung dessen gliedert Decker sein Buch in drei Teile: der Aufstieg (seit Ulbrichts Reformsignalen 1963), der Absturz (das eigentliche Plenum), die Trümmer. Nur grob chronologisch geordnet, bietet sein Text ein Kaleidoskop aus Entwicklungssträngen, Episoden und Ereignissen der Geschichte der Arbeiterbewegung, vornehmlich der SED, Einblicken in die liberale bis linke Kunstszene und das bornierte Kunstverständnis "der Dogmatiker". Decker (er taucht als Spaziergänger auch selber auf) bietet Portraits und zeigt Verwurzelungen von Akteuren, ästhetische und kunstkritische Positionen - an Beispielen und in Bezug auf den "sozialistischen Realismus". Der Leser folgt Visionen, Haltungen und Aktionen.
Der weniger problemorientierte als vielmehr assoziative Textaufbau erzeugt zahllose Redundanzen und kaschiert Schwachstellen. Er verdeckt flapsige Kürzel, etwa zur Bitterfelder Konferenz 1959, die angeblich "einen neuen Realismus ausrief" (55) und "die Verbindung zwischen Wirtschaft und Kunst ins Zentrum rückte" (319). Manchmal irrt sich der Autor, so wenn er die Idee vom Sozialismus als "eigener Formation" ins Jahr 1963 vorverlegt (147). Dagegen fehlt die "sozialistische Menschengemeinschaft", das ideologische Pendant zum Wirtschaftsreformprogramm in den 1960er Jahren, gedacht als Ideenbrücke zwischen SED und Künstlern im "Aufstieg". Legenden werden kolportiert, wie die, Breshnew habe 1965 die Teilung Deutschlands zementiert und Ulbricht gedroht. Wirtschaftspolitische Aussagen entbehren oft der Solidität: Da wird mit Formeln jongliert ("alte extensive Wirtschaftspolitik Stalins", 324), haltlos spekuliert (man könne sich vorstellen, wie die Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre Ulbricht für die geplante Industriepreisreform hassten) und Missverständliches locker angedeutet ("Ulbrichts Ziel scheint ein Eigentumsmix zu sein.", 326). Ein interdisziplinärer Ansatz gerinnt hier zur politikgeschichtlich nicht immer überzeugend untersetzten Kunst- und Ideologiebetrachtung. Selbst für das Argument mit den Rinderoffenställen ist sich Decker nicht zu schade. Dazwischen glänzt er mit gekonnten Essays zu Literatur, Film und Bühne.
Diese eigenwillige Darstellungsweise ist Ausdruck eines reizvollen aber nicht unproblematischen Genrewechsels, vor allem aber Beleg eines kritikwürdigen Denkens in historischen Abläufen. Der Philosoph urteilt deterministisch, das Präsens als Zeitform in der Beschreibung der Vorgänge unterstreicht das. Anders als Wolf Biermann, der Mitte der 1960er Jahre "so viele Fragen um einen, der aufsteigt" hatte (aus dem Gedicht Biermanns "Portrait eines alten Mannes"), hat Decker aber keine echten Fragen mehr, nur rhetorische, Stilmittel eben. Für ihn wurde 1965 alternativlos das Ende der DDR eingeläutet. Dafür breitet er eine prächtige Sammlung von Zeitzeugenzitaten aus, unpassende (Hans Mayer etwa legte 1989 den Bruch eindeutig ins Jahr 1956) übergeht er. Und der Absturz ist für ihn schon im Aufstieg zwingend angelegt, Trümmerauflesen zwecklos, da sich ein "neue[r] Dogmatismus [...] 1966 als Eiskruste über die Kultur des Landes legte" (130).
Wo Alternativen im Vergangenen grundsätzlich wenig gelten, lassen sich getrost Zeitabfolgen durchbrechen und souverän Gedankensplitter montieren. Weisheiten wie "ein einziges Gestrüpp von Widersprüchen" (296) wirken eher hilflos. An anderen Stellen schwingt Zynismus mit. Im Abschnitt "Die Trümmer", wo persönliche Schlüsse von Künstlern und Kulturfunktionären aus den schockierenden Geschehnissen vorgestellt werden, haben Stefan Heym und Franz Fühmann alles richtig erkannt, nämlich so, wie Decker es sieht: Nichts war von nun ab mehr reformierbar; Wochen zuvor war Heym "immer noch ein Romantiker des Sozialismus" (292). Wem das Plenum die Augen aber nicht öffnete, der machte sich eben Illusionen oder heuchelte. Fraglich, ob Decker den Künstlern damit gerecht wird.
Sein Verständnis von historischer Zwangsläufigkeit verbaut Decker natürlich den Blick auf den Qualitätsumschlag: "Reformer und Dogmatiker stehen sich kräftemäßig 1965 etwa gleich stark gegenüber" (38). Doch wann und warum das umschlägt, erklärt Decker nicht. Ohne sich in Kräfteschemata zu ergehen, suchen Historiker seit langem zu klären, wie und mit welchen Erfolgsaussichten die Honecker-Fronde sich ab November 1965 formierte, in Moskau absicherte (oder nicht), und wie ihnen die Dynamik des Plenums in die Hände spielte. Letzteres beleuchtet Decker gut, von Worthülsen wie "intellektueller Offenbarungseid" (301) einmal abgesehen. Die deutschlandpolitischen Kalküle der Akteure sind indes allenthalben noch kaum ergründet. Aber Decker hat ein gestörtes Verhältnis zur Geschichtswissenschaft. Das Literaturverzeichnis belegt, was der Text vorführt: Decker rezipiert keine Debatten, äußert sich nicht zu Ansätzen, Hypothesen und Beweisführungen anderer. Er bedient sich gewählt (die Fundorte belegt er) weniger Standardwerke. Monika Kaiser [1] hat es ihm angetan, an Günter Agde [2] kommt er nicht vorbei. Dass er letzterem vorwirft, Ulbrichts Referat nicht dokumentiert zu haben, womit "sich eine von der Gruppe Honecker gesetzte Priorität bis heute fort[schreibt]" (323), ist unredlich, weil sich diese verdienstvolle Dokumentation auf Unveröffentlichtes beschränkte. Außerdem ist ihm eine fundamentale Schwäche im Umgang mit Quellen vorzuwerfen. Er rekonstruiert so gut wie alles aus späteren Erinnerungen, meist Äußerungen nach der öffentlichen Thematisierung des "Kahlschlags" und der Verbotsfilme im Jahr 1990. Wenn etwa Herbert Köfer 2009 erklärte, "im Grunde war dieses 11. Plenum schon der Anfang vom Ende" (392), so ist das als Rückblende zwar deutlich gemacht, nur eben nicht hinterfragt. In sehr vielen Fällen wird Erinnerung zitiert, als beschreibe sie exakt damaliges Verhalten.
Wichtiges ist gleichwohl gelungen: Decker wird Walter Ulbricht weitgehend gerecht. Die Stärke und die Gebrechen des kommunistischen Partei- und Staatsführers in einem Moment, da die internationale Lage dem ostdeutschen Kern seiner gesamtdeutschen Pläne größte Chancen bot, wurden lange nicht so gut beschrieben. Nur das Ende korrespondiert damit nicht, wenn es heißt, zwischen ihm und Honecker erfolgte schließlich doch der "fatale Schulterschluss", weil sie eben beide Dogmatiker waren (327). Mit dieser Logik "gräbt sich einer [...] selbst das Wasser ab" (327).
Anmerkungen:
[1] Vgl. Monika Kaiser: Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker. Funktionsmechanismen der SED-Diktatur in Konfliktsituationen 1962 bis 1972, Berlin 1997.
[2] Vgl. Günter Agde (Hg.): Kahlschlag. Das 11. Plenum des ZK der SED 1965. Studien und Dokumente, Berlin 1991, 2. erheblich erweiterte Auflage 2000.
Elke Scherstjanoi