Jean-Louis Ferrary: Les mémoriaux de délégations du sanctuaire oraculaire de Claros, d'après la documentation conservée dans le Fonds Louis Robert (= Mémoires de l'Académie des Inscriptions et Belles-Lettres; Tome 49), Paris: de Boccard 2014, 2 Bde., XXI + 917 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-2-87754-307-1, EUR 150,00
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Ein wichtiges und lange erwartetes Werk ist anzuzeigen, nämlich die Inschriften aus dem Orakelheiligtum von Klaros. Zahlreiche Inschriftenfunde stammen aus den Ausgrabungen, die Louis und Jeanne Robert und Roland Martin zwischen 1950 und 1961 durchgeführt haben. [1] Die von Louis Robert geplante Edition ist zu seinen Lebzeiten (er verstarb 1985) nicht mehr erschienen. Nach dem Tod seiner Witwe Jeanne 2002 gelangte das Material in die Obhut der Académie des Inscriptions et Belles Lettres. Mit Jean-Louis Ferrary, der seinen Forschungsschwerpunkt in der späten römischen Republik und im frühen Prinzipat hat und als Epigrafiker hellenistisch-römischer Inschriften aus Kleinasien und als Althistoriker bestens ausgewiesen ist, haben die Texte einen höchst kompetenten Bearbeiter gefunden. Eine gewisse Dringlichkeit, die Texte zu publizieren, ergibt sich nicht zuletzt daraus, dass viele Inschriftstelen in situ erhalten und frei zugänglich sind; mancher Gelehrte wird die Texte für den Hausgebrauch bereits abgeschrieben haben.
Der erste Band enthält nach einleitenden Kapiteln die inschriftlichen Texte, der zweite Band Indices und Abbildungen. Die einleitenden Kapitel sind sehr umfangreich und enthalten eine allgemeine Einleitung (1-5), Bemerkungen zur Entdeckungs- und Forschungsgeschichte (7-17), zur Chronologie der Inschriften (19-23), zur topografischen Verteilung der Inschriftenstelen im Heiligtum (Propyläen, Heilige Straße, Apollon-Temenos und Altarbereich: 25-37), Bemerkungen zur Relevanz der Texte für die Onomastik (39-71), eine Übersicht über die Amtsträger von Kolophon und Klaros, eingeteilt in 17 Gruppen und mit zahlreichen Stemmata versehen, sowie zu den auftretenden Chören (73-131), eine geografisch gegliederte Aufstellung aller Städte, die das Orakel konsultierten (133-182), sowie Bemerkungen zu Orthografie und Grammatik (183-193). Diese Kapitel stellen eine umfassende Auswertung der Inschriften dar. Den Hauptteil des ersten Bandes machen dann die Inschriften aus (197-654), chronologisch angeordnet nach den Prytanen von Kolophon, den dortigen eponymen Amtsträgern, die annähernd absolut datierbar sind. Es handelt sich um insgesamt 416 Nummern, einschließlich der nur fragmentarisch erhaltenen und der bereits früher publizierten Texte. Sie reichen von ca. 105 bis in die 230er-Jahre n.Chr. Der früheste Text (Nr. 1) stammt aus Sebastopolis.
Trotz einer Reihe von Varianten weisen die meisten Inschriften, deren Charakter Ferrary mit "Erinnerungsmonumente der Delegationen" beschrieben hat, den gleichen Aufbau auf. In einer Art Überschrift erscheint die Polis, die das Orakel befragt hat (Ethnikon im Genitiv Plural). Danach folgt eine Passage, die mit dem eponymen Prytanis von Kolophon beginnt und auch andere Amtsträger von Kolophon und Klaros nennt. Schließlich erscheinen die Namen der Jungen bzw. Jungen und Mädchen, die nach Klaros entsandt worden waren und hier in Form von Chören bei Kulthandlungen für den Gott aufgetreten sind. Verzeichnet sind auch die die jungen Leute begleitenden Amtsträger aus den jeweiligen Poleis (vor allem Choregos, Theopropoi, Hieropoios, Hierokeryx; in Nr. 9 [Korinth] Kathegetes, Iatros und Paidagogos). Die eigentlichen Orakelsprüche erscheinen nicht; der Hintergrund ergibt sich nur aus Inschriften, in denen explizit vermerkt wird, dass die Entsendung der jeweiligen Delegation bzw. der Chöre aufgrund eines Orakels erfolgte, so z.B. in Nr. 10 (Bargasa, ähnlich Nr. 2). Aus dem Charakter der Texte folgt zwangsläufig der Schwerpunkt der Kommentierung, also Bemerkungen zur Prosopografie und Onomastik. Hier hat Ferrary so ziemlich alles herausgeholt, was man sagen kann. Dabei konnte er sich auch auf zahlreiche Notizen Louis Roberts stützen, die im Nachlass enthalten sind. Diese Aufzeichnungen wurden intensiv herangezogen und gewürdigt; vieles erscheint als wörtliches Zitat Roberts.
In prosopografischer Hinsicht bieten die Namen der jungen Leute, die natürlich den Oberschichten angehörten, insbesondere aber die Namen der diese begleitenden Amtsträger aus den verschiedenen Städten viel. So konnte Ferrary bei römischen Kolonien oftmals auf Angehörige von Familien verweisen, die zur Gründergeneration gehörten, so etwa zu Iconium (Nr. 39 und 41). Zwar waren manche Familien bereits bekannt, aber hier erscheint das Material breit kommentiert und unter Verwendung neuester Literatur. Auch im Zusammenhang anderer Städte findet man umfangreiche prosopografische Kommentare, so zu den Statilii (Nr. 4; Herakleia Salbake). Darüber hinaus bieten die Inschriften viele bemerkenswerte Detailangaben. So erscheinen in einer Reihe von Texten exakte bzw. vollständige Stadttitulaturen, so im Fall von Nr. 47 (Iconium als "Koloneia Ailia Eikonion Hadriane"), Nr. 41 (Hadrianoi Neokaisareioi [Pontos]) und Nr. 36 (Amisos; hier auch die städtische Ära). In vier Inschriften von Laodikeia am Lykos wird nach dem Proconsul von Asia datiert (Nr. 31, 32, 34 und 40). Nr. 134 (Laodikeia am Lykos) bietet die Angabe, dass die Aufstellung der Stele von einem Bürger finanziert wurde. In Nr. 11 (Perinth) wird der Hymnendichter (melopoios) namentlich verzeichnet. Mehrere Stelen tragen das "Wappen" (parasemon) der jeweiligen Stadt, allein vier von Chios (Nr. 166, 169, 190 und 329). Weitere Details und Begriffe von Relevanz sind über die Indices ermittelbar.
Bemerkenswert ist die geografische Verteilung der Klientel. Die meisten Texte stammen von kleinasiatischen Städten, mit Schwerpunkt Westküste bis nach Karien; das griechische Mutterland ist nur mit einer Anfrage bzw. Delegation aus Korinth vertreten (Nr. 9). Die höchste Zahl an "Erinnerungsmonumenten" stammt aus Chios (36 Inschriften) und Phokaia (25 Inschriften). Dies ist wegen der Nähe zu Kolophon bzw. Klaros nicht überraschend, aber es fällt auf, dass die südionischen Städte fehlen. Man könnte denken, dass diese Didyma befragten, aber das scheint nicht der Fall gewesen zu sein: Hier waren es - nach dem epigrafischen Befund zu urteilen - in der Kaiserzeit vor allem Privatleute, die das Orakel konsultierten. [2] Prominent waren in Klaros die karischen Poleis Herakleia Salbake (31 Texte) und Tabai (17 oder 18 Texte) vertreten. Der Grund wird zwar nicht recht klar, aber vielleicht war es der Wunsch dieser Städte, ihr Hellenentum zu demonstrieren; damit käme man in die Gedankenwelt der Zweiten Sophistik, was auch chronologisch passt. Im Übrigen sind auch kleinere, nicht besonders gut dokumentierte Poleis wie z.B. Meiros (Nr. 102) vertreten; Charax in Makedonien (Nr. 106) ist laut Kommentar überhaupt nur durch diese Inschrift bezeugt.
So wichtig die nun publizierten Texte aus dem Heiligtum sind, so ergeben sie allein noch kein vollständiges Bild der dortigen Orakeltätigkeit. Heranziehen muss man auch die literarisch überlieferten Orakel, in denen vielfach die Orakelsprüche erscheinen, sowie die in den Städten aufgestellten Inschriften, die das Orakel befragt haben. Das diesbezügliche Material haben Reinhold Merkelbach und Josef Stauber 1996 in einem umfangreichen Aufsatz zusammengestellt. [3] Hinsichtlich neuerer Untersuchungen zur Orakeltätigkeit in Klaros sei vor allem auf die umfangreiche Monografie von Christian Oesterheld verweisen. [4] Mit all diesen Publikationen ist nunmehr ein sehr guter Forschungsstand zu Klaros erreicht.
Diese Hinweise, die nur das Gesamtbild zu Klaros skizzieren, sollen freilich die wesentlichen Vorarbeiten Roberts und die editorische Leistung Ferrarys in keiner Weise schmälern. Die Inschriften sind sorgfältig ediert, mit zuverlässigen Lemmata, kritischen Apparaten und ausgezeichneten Kommentaren. Die im zweiten Band enthaltenen Konkordanzen und Indices sind sehr umfangreich (9-114), und die Abbildungen und Karten durchgängig exzellent (117-259). Auf Übersetzungen der recht uniformen Texte hat Ferrary verzichtet; doch sind seinen Kommentaren paraphrasierende Bemerkungen vorangestellt, die einer Übersetzung recht nahe kommen. Dennoch ist zu befürchten, dass unsere Studierenden das exzellente Werk kaum benutzen werden.
Anmerkungen:
[1] Zu den Forschungen und Vorab-Publikationen Roberts s. Bd. 1, Literatur- bzw. Abkürzungsverzeichnis, XVIIIf.
[2] Zu Orakeln aus Didyma s. die Aufstellungen bei Joseph Fontenrose: Didyma. Apollo's Oracle, Cult, and Companions, Berkeley / Los Angeles 1988, 177-244; und Christian Oesterheld: Göttliche Botschaften für zweifelnde Menschen. Pragmatik und Orientierungsleistung der Apollon-Orakel von Klaros und Didyma in hellenistisch-römischer Zeit (= Hypomnemata; Bd. 174), Göttingen 2008, 578-592. In hellenistischer Zeit war das noch anders; damals haben zahlreiche Poleis Didyma konsultiert: s. Wolfgang Günther: Das Orakel von Didyma in hellenistischer Zeit. Eine Interpretation von Stein-Urkunden (= IstMitt; Beiheft 4), Tübingen 1971, 124-127. Der kaiserzeitliche Befund muss allerdings nicht repräsentativ sein, denn es waren vor allem Kultbeamte, die in Didyma Inschriften aufstellen ließen.
[3] Reinhold Merkelbach / Josef Stauber: Die Orakel des Apollon von Klaros, in: EA 27 (1996), 1-53. Man konnte den Aufsatz, der Jeanne Robert gewidmet ist, allerdings auch als Aufforderung an die französischen Gelehrten verstehen, die Klaros-Inschriften zügig zu edieren.
[4] Christian Oesterheld (wie Anm. 2). Der Titel ist auch im Literaturverzeichnis von Ferrary enthalten.
Norbert Ehrhardt