Alfred Rosenberg: Die Tagebücher von 1934 bis 1944. Herausgegeben und kommentiert von Jürgen Matthäus und Frank Bajohr, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2015, 650 S., ISBN 978-3-10-002387-2, EUR 26,99
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Der 1893 in Tallinn geborene Alfred Rosenberg war einer der bedeutendsten Funktionäre des Nationalsozialismus. Dank eigener Anschauung des Bolschewismus aufgrund seiner deutschbaltischen Herkunft galt er innerhalb der NSDAP als Experte für Osteuropa und dessen Bevölkerung. In den 1920er Jahren machte er sich zudem einen Ruf als führender Parteiideologe und veröffentlichte 1930 das Buch "Der Mythus des 20. Jahrhunderts", das - wiewohl krude, inkonsistent und schwer lesbar - als zweites Schlüsselwerk des Nationalsozialismus neben Adolf Hitlers "Mein Kampf" galt und gilt. Trotzdem stand Rosenberg bis 1941 eher in der zweiten Reihe, denn sein Außenpolitisches Amt der NSDAP konnte die Dominanz des Außenministeriums nicht brechen, und seine Zuständigkeit für die weltanschauliche Schulung der Partei blieb vage. Der "Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg", die wichtigste Kunstraub-Institution des Zweiten Weltkriegs, stellte deshalb 1940 einen wichtigen Karriereschritt dar, aber erst das Amt als "Reichsminister für die besetzten Ostgebiete" der Sowjetunion machte Rosenberg zu einem Hauptverantwortlichen für die deutsche Politik von Ausbeutung und Vernichtung. Konsequenterweise verurteilten ihn die Alliierten im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess zum Tode und richteten ihn 1946 hin.
Spätestens seit Ernst Pipers voluminöser Biografie aus dem Jahr 2005 [1] gelten Rosenbergs Leben und Bedeutung als bestens erforscht. Welche neuen Erkenntnisse lassen sich aus den nun von Jürgen Matthäus und Frank Bajohr, zwei ausgewiesenen Holocaust-Forschern, veröffentlichten Tagebüchern Rosenbergs gewinnen? Die beiden Herausgeber sind hier ganz eindeutig: Eine Neubewertung seiner Rolle sei sicher nicht erforderlich. Dennoch ist ihre Quelle von einiger Relevanz für die Forschung, weil von der NS-Elite außer Rosenberg nur der exzessive Vielschreiber Joseph Goebbels Aufzeichnungen hinterlassen hat. Schon vom Umfang her könnte der Unterschied zwischen den beiden Tagebüchern aber nicht größer sein: Wo Goebbels täglich mehrere Seiten schrieb beziehungsweise später diktierte, notiert Rosenberg oft wochen-, ja monatelang nichts, verzichtete weitgehend auf Selbstreflexionen und zeichnet sich vor allem durch seinen schlechten Stil aus.
Matthäus und Bajohr zielen in ihrer hundertseitigen Einführung insbesondere auf den Holocaust ab, den Rosenberg voller Gefühlskälte beschreibt, gutheißt und vorantreibt. Seine Konkurrenz beispielsweise zu Heinrich Himmler resultierte nicht aus gegensätzlichen Anschauungen, sondern aus Kompetenzgründen. Gleichzeitig galt Rosenberg in der NS-Elite als der Einzige, der die Ideologie vollkommen ernst nahm. In diesem Sinne war die Ermordung der Juden ein imperiales Programm: Die deutsche "Judenfrage" könne dann als gelöst gelten, wenn das Land judenfrei sei - und Entsprechendes gelte für Europa, das letztlich unter deutsche Herrschaft gehöre. Diesen Gedanken vom 28. März 1941 notierte der spätere Reichsminister für die besetzten Ostgebiete bezeichnenderweise nicht in seinem Tagebuch, sondern in einem der 23 weiteren Schlüsseldokumente (hier 550-554), die der Edition beigegeben sind und 90 Seiten einnehmen; sie sind bislang alle unveröffentlicht und thematisieren erneut den Holocaust.
Das Tagebuch zeigt Rosenberg vor allem als empathielosen Opportunisten, der seinem "Führer" Adolf Hitler geradezu hündisch ergeben war und jede Gunstbezeugung dankbar vermerkte - und sich gleichzeitig zutiefst über jedes schlechte Wort über seine Rivalen freute; dass dahinter ein System der Herrschaftsausübung steckte, realisierte er nicht. Gerade hier belegt die Dokumentation aber Denk- und Handlungsschemata der NS-Elite und ihres Selbstverständnisses als zynische Männerbündler, wie beispielsweise das folgende Fragment von 27. Januar 1940 belegt (314): Rudolf "Hess gab übrigens noch dem Führer den Bericht eines deutschen Kapitäns, der nach vielen Jahren wieder in Odessa gewesen war. Dieser erklärte, im Gegensatz zu früher hätte er keinen einzigen Juden mehr in den Behörden getroffen. Das gab Anlass zu den jetzt häufigen Betrachtungen, ob sich in dieser Hinsicht in Russland wirklich ein Wandel vorbereite. Ich meinte, wenn wirklich diese Tendenz beginne, würde sie mit einem furchtbaren Judenpogrom enden. Der Führer sagte: vielleicht würde das dann verängstigte Europa ihn bitten, für die Humanität im Osten zu sorgen ... Alle lachten. F[ührer].: Und Rosenberg müsste der Schriftführer eines von mir präsidierten Kongresses zur humanen Behandlung der Juden sein ..." [Hervorhebungen im Original].
Die Edition fordert vollkommen zu Recht dazu auf, über den Zusammenhang von politischer Praxis und Ideologie viel mehr nachzudenken - und letztere nicht nur als wenig relevantes Beiwerk abzutun. Andererseits reduzieren die Herausgeber Rosenberg tendenziell auf seine - zweifellos bedeutende - Rolle im Holocaust. Viel weniger verrät die Einleitung über die Zeit vor 1939 und beschränkt zudem "Erkenntnisse und Probleme" auf nur zwölf Seiten; die grundsätzlich angenehm zurückhaltende Kommentierung bietet hier keine Abhilfe. Nur partiell kann für diese Leerstelle als Erklärung gelten, dass Robert Kempner, der Nürnberger Ankläger, der das Tagebuch bis zu seinem Tode 1993 in Privatbesitz behielt, daraus beispielsweise schon zu Rosenbergs Kirchenpolitik veröffentlicht hatte. Einen nochmals anderen Fokus hatte die von den Herausgebern berechtigterweise kritisierte Teiledition der Tagebücher durch Hans-Günther Seraphim, der als ehemaliger Mitarbeiter im "Ostministerium" durchaus apologetische Absichten verfolgte. [2] Aber gerade deshalb wären Erläuterungen auch für andere Bereiche von Interesse gewesen.
Doch dies sind nur kleine Kritikpunkte einer wichtigen Publikation, deren vollständige Lektüre höchst lohnenswert ist. Einziger echter Wermutstropfen ist, dass es kein Sachregister gibt und lediglich Orte und Personen verzeichnet sind, wobei Letztere jeweils kurz mit Geburts- und Sterbedaten vorgestellt werden. Zusätzlich zur Einführung findet der Leser eine Bibliografie, wohingegen in den Fußnoten auf weitere Literaturnachweise verzichtet wird und die Kommentierung sich auf die allernotwendigsten Sachhinweise beschränkt. Das mag für ein breites Publikum vielleicht manchmal etwas knapp sein, für Forschungszwecke aber reicht es vollkommen aus.
Anmerkungen:
[1] Ernst Piper: Alfred Rosenberg. Hitlers Chefideologe, Berlin 2005.
[2] Hans-Günther Seraphim (Hg.): Das politische Tagebuch Alfred Rosenbergs. Aus den Jahren 1934/35 und 1939/40, Göttingen u.a. 1956.
Stephan Lehnstaedt