Wolfgang Kemp: Der explizite Betrachter. Zur Rezeption zeitgenössischer Kunst, Konstanz: Konstanz University Press 2015, 242 S., 39 s/w-Abb., ISBN 978-3-86253-075-5, EUR 29,90
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Was passiert, wenn der Kunstdiskurs eine wissenschaftliche Methode gleichermaßen absorbiert und überholt zu haben scheint? Wenn der Versuch unternommen wird, nach mehr als zwanzig Jahren zum zeitgenössischen Kunstgeschehen aufzuschließen? Für diese Problematik liefert Wolfgang Kemps Studie "Der explizite Betrachter" ein anschauliches Beispiel. Kemp gilt als prominentester Vertreter der kunsthistorischen Rezeptionsästhetik. In den 1980er-Jahren veröffentlichte er im Anschluss an die Konstanzer Schule seine ersten Texte zum Verhältnis Betrachter und Werk. Aus Wolfgang Isers "implizitem Leser" wurde unter Kemps Feder der "implizite Betrachter".
Kemp ging es dabei um die Betrachterfunktion, die werkimmanent "im Bild" [1] angelegt ist. Diese arbeitete er zunächst anhand der Malerei der frühen Neuzeit heraus. Mitte der 1990er-Jahre wandte er sich dann dem zur Rezeptionsseite hin verschobenen, erweiterten Kunstbegriff der 1960er-Jahre zu. Entsprechend widmete sich Kemps zweiter Band 1996 dem zeitgenössischen Betrachter. Dort musste er sich der Frage stellen, wohin mit der im Bild situierten Leerstelle, wenn der Werkbegriff selbst zur Disposition gestellt worden war? [2]
In seinem jüngsten, 2015 erschienenen Buch "Der explizite Betrachter" knüpft der Autor an seine Ausführungen von 1996 an. Es nimmt seinen Ausgangspunkt im Jahr 1967 und erzählt eine Art Ursprungsgeschichte der Rezeptionsästhetik, um sie über Institutionsgeschichte und relationale Kunst zu besucherorientierten Kunstformen in die Gegenwart weiterzuführen. Dabei entspricht das erste Kapitel überwiegend dem Text von 1996 zum zeitgenössischen Betrachter, erweitert ihn jedoch um das interessante Beispiel der "Box 5/6" des Aspen Magazine von 1967. Schon 1996 hatte Kemp seine durchaus polemische Argumentation gegen das postmoderne Paradigma des "aktiven Betrachters" auf Michael Frieds Kritik an der "Theatralität" der Minimal Art gestützt. Mit dem Entstehungsjahr von dessen kanonischem Essay "Art and Objecthood" nimmt er nun auch in dem neuen Buch das Jahr 1967 zum neuralgischen Ausgangspunkt. "1967: die Geburt der Rezeptionsästhetik", so ist es überschrieben. Darin trifft Fried auf Roland Barthes, Guy Debord, Susan Sontag und Pierre Bourdieu, von dessen Kunstsoziologie Kemp sich abgrenzt. Mit Peter Handkes Publikumsbeschimpfungen, dem Happening, mit Peter Weibel, VALIE EXPORT und der Minimal Art, so folgert er im zweiten Kapitel, verlässt die Kunst seit den 1960er-Jahren ihre "inneren" Bedingungen, um sich auf die "äußeren" Beziehungen zum Betrachter zu besinnen. Zugleich wird das exklusive bürgerliche Kunstpublikum durch ein Mitmach-Publikum ersetzt, dass, so der Subtext, den Weg für den "Massenrezipienten" bahnt.
In seiner Diskussion von installativen Arbeiten Bruce Naumans und Franz Erhard Walthers lässt Kemp die Weiterentwicklung der Installation zum Bewegungs- und Handlungsraum Revue passieren, der zwischen behaviouristischer Handlungsanleitung und emanzipativer Betrachteraktivierung pendelt. Partizipation deutet er anhand von Richard Serras Stahlskulpturen als eine Form der Viktimisierung des Publikums, das den künstlerischen Aggressionen ausgesetzt ist.
Es folgt ein Kapitel zur Entwicklung der "Institution Kunst" seit 1967. Diese habe vor allem die Herabsetzung von Zugangs- und Beteiligungsschwellen vorangetrieben. Im Zuge der Ökonomisierung von Museen, die durch Museumsshops und Cafés ein Massenpublikum adressierten, sei der Betrachter zum "Allesfresser" geworden, der sich weniger - wie zu Zeiten kontemplativer Kunstbetrachtung - der ästhetischen Erfahrung als dem einfachen Konsum widme. Ein ähnliches Zeugnis stellt Kemp auch der durch Nicolas Bourriaud geprägten "relationalen Ästhetik" aus, die zwischen Give-away (Felix Gonzalez-Torres), Erwartungsenttäuschung (Gabriel Orozco) und Mitmach-Ambient (Ai Weiwei, Cyprien Gaillard) keinen Mehrwert, sondern nur ein "Mehr" generiere. Und auch Olafur Eliasson finde mit seinem Beharren auf das selbstreflexive Paradigma, so Kemp im anschließenden Kapitel zur Eventkunst, keine Möglichkeit des Außerhalb, der ästhetischen Distanz, die noch die Konstanzer Schule gefordert habe. Angesichts des explodierenden Kunstmarkts, mit dem die Ausstellungsinstitutionen zunehmend konkurrieren müssen, sei ohnehin nur noch die inhaltliche Unterfütterung der Eventkunst mit "kunstpolitischer Korrektheit" festzustellen. Was bleibt, so schließt der Autor in kulturpessimistischem Gestus ab, ist die Verweigerung von Rezeption, das Abwenden von der Kunst, von den Kunstmarktgesten Jeff Koons' oder Gerhard Richters.
Insgesamt ist Kemps Reaktualisierung seiner Thesen aus den 1990er-Jahren durchaus lesenswert. Es zeichnet sich durch einige aufschlussreiche Beobachtungen hinsichtlich der publikumsorientierten Ökonomisierung der Museen sowie den daraus resultierenden Paradoxien der Partizipationskunst aus und diskutiert insbesondere im ersten Kapitel einige äußerst interessante Materialien. Leider kann man sich jedoch insgesamt nicht des Eindrucks erwehren, dass sich der Autor hier an einem Feindbild abarbeitet, zu dem er plötzlich in unfreiwillige Nähe gerückt ist: Gemeint ist eine kritische, linke Kunstgeschichte und -theorie, die sich insbesondere seit den 1990er-Jahren dem Thema der Institutionskritik, der feministischen Revision eines idealisierten und unmarkierten Betrachterbegriffs wie auch künstlerischen Formen der Partizipation gewidmet und sich auf der Höhe des zeitgenössischen Kunst- und Betrachterdiskurses herausgebildet hat. Denn auch diese hat in den letzten Jahren nicht nur die Ökonomisierung des Betriebs thematisiert, sondern auch die institutionelle Vereinnahmung institutionskritischer und partizipatorischer Kunst reflektiert.
Dies schlägt sich in einigen symptomatischen Begrifflichkeiten und "Leerstellen" nieder, die Wolfgang Kemps Buch durchziehen. Zum einen nimmt er keine profunde Diskussion institutionskritischer Theoriebildung vor. Vielmehr verweist er auf sie durch einige polemische Seitenhiebe, die recht unauffällig in den Text gestreut sind. Sie zeigen sich etwa, wenn durch die Verwendung von Begriffen wie "Korrektheit" oder "Permissivität" der rechtskonservative Diskurs der "political correctness" aufgerufen wird. Wenn so unterschiedliche performative Erscheinungsformen wie museale Spektakelkultur und politischer Anti-Aids-Aktivismus miteinander verglichen werden. Und wenn das gesellschaftliche Projekt der Gender-/Race- und Class-Diskurse in Anspielungen als "Partikularinteressen" bezeichnet wird, um in Abgrenzung hierzu für einen universellen Betrachterbegriff zu plädieren.
Ohne den polemischen Unterton und mit etwas mehr Informiertheit über das zeitgenössische Kunstgeschehen abseits von prominenten Großkunst-Events hätte der Text vielleicht damit enden können, dass es durchaus künstlerische Praktiken gibt, die Partizipation mit einer kritischen Reflektion der Institutionskritik verbinden. So aber kommt Wolfgang Kemp zu dem Schluss, dass die zeitgenössische "Mitmach-Kunst" nicht mehr sei, als "angewandte Rezeptionsästhetik".
Anmerkungen:
[1] Wolfgang Kemp: Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik, in: ders. (Hg.): Der Betrachter ist im Bild, Berlin 1992, 7-27, hier: 10.
[2] Vgl. Wolfgang Kemp: Zeitgenössische Kunst und ihre Betrachter. Positionen und Positionszuschreibungen, in: ders. (Hg.): Zeitgenössische Kunst und ihre Betrachter, Köln 1996, 13-43, hier: 20.
Ilka Becker