Julian Aulke: Räume der Revolution. Kulturelle Verräumlichung in Politisierungsprozessen während der Revolution 1918-1920 (= Studien zur Geschichte des Alltags; Bd. 31), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2015, 483 S., 10 s/w-Abb., ISBN 978-3-515-11183-6, EUR 76,00
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Die revolutionären Neuordnungsprozesse nach dem 1. Weltkrieg sind in den letzten Jahrzehnten kaum Gegenstand groß angelegter historischer Forschungen gewesen. Selbst im Erinnerungsjahr 2009 blieb es weitgehend still im Blätterwald der Fachliteratur. [1] Allerdings kann das wohl kaum daran liegen, dass die sogenannte Novemberrevolution bereits umfassend erforscht wäre. Vielmehr scheint es - wie bereits Alexander Gallus treffend feststellte - dass die Revolutionsforschung inzwischen eine "festgefahrene" ist und nur noch "halbherzig betrieben" wird. [2] Umso erfreulicher ist es, dass nicht nur die Weimar-Forschung allgemein im Sinne einer neueren politischen Kulturgeschichte frischen Wind in die Segel bekommen hat [3], sondern auch die Anfangsphase der ersten deutschen Demokratie - die Revolution an sich - nun wieder Gegenstand von Sammelbänden und Monographien zu werden scheint. [4]
Julian Aulke hat eine Monographie vorgelegt, die hohe Erwartungen weckt: Kann es gelingen mit Hilfe der Analyseinstrumente des spatial turns der "festgefahrenen" Revolutionsforschung neue Wege zu eröffnen? Die Ausgangsthesen der Untersuchung stützen diese Erwartungen. So postuliert der Autor etwa, dass räumliche Ordnungen während sozialer Unruhen die Komplexität der Wandlungsmöglichkeiten von Identitäten reduziere und widerspricht damit älteren Forschungsergebnissen, die Identitätsbildungen in der Revolution entlang bereits existierender parteipolitischer und ideologischer Grenzmarken interpretiere, die den Handlungen der Akteure als Container dienten (18). Aulke zeichnet in der Einleitung ein ausführliches Bild verschiedener raumtheoretischer Ansätze, die er - kombiniert zu einem heuristischen Instrumentarium - an seinen Untersuchungsgegenstand anlegen will. Das Ziel seiner Methode scheint letztendlich jedoch nicht wirklich neu: Eine Raumgeschichte der revolutionären Frühphase der Weimarer Republik sei in der Lage, Konzepte der Sozial- und Kulturgeschichte einander anzunähern, da sowohl individuelle Entscheidungen, als auch übergeordnete Strukturen in ihrem gegenseitigen Wirken analysiert werden könnten (42). Einen ähnlichen Anspruch wird wohl jede neuere geschichtswissenschaftliche Arbeit haben - ob sie nun einem bestimmten theoretischen turn folgt oder nicht. [5] Neben der ausführlichen Darstellung neuerer raumtheoretischer Ansätze bleiben zudem zeitgenössische Raumvorstellungen wie etwa Carl Schmitts Nomos-Theorie leider weitgehend unerwähnt.
Aber nun zu den konkreten neuen empirischen Ergebnissen der Arbeit. Als Ausgangslage der Revolution beschreibt der Autor mit Detlev Peukert die Entwicklungen einer krisenbehafteten Moderne, die in Krieg und Revolution kulminierten und die Großstädte zu Brennpunkten sozialer Konfrontationen werden ließen. Dabei konzentriert er sich auf den "Stadtraum Berlin" und den "Makroraum Ruhrgebiet" (78) und beschreibt quellengesättigt und detailreich die Brennpunkte politischer Kämpfe: Bahnhöfe, symbolisch bedeutende Gebäude - beispielsweise das Berliner Schloss - oder private Räume wie Wirtshäuser und Wohnungen. Dabei bleibt Aulke seiner Ausgangsthese treu und zeigt anhand einzelner Ereignisse, wie an bestimmten Orten die Grenzlinien zwischen Revolution und Gegenrevolution oder Privatheit und Öffentlichkeit verwischen und neu gezogen werden konnten. Das Kapitel zu verschiedenen politischen Gruppierungen und Kampfverbänden als oftmals selbsternannte Ordnungshüter bedrohter öffentlicher Räume kann zunächst weniger überzeugen. Einzelne Gruppierungen werden getrennt voneinander vorgestellt, wobei deren Interaktion weitgehend außen vor bleibt. Erst im Schlusskapitel wird deutlich, was die unterschiedlichen revolutionären und gegenrevolutionären Gruppierungen verbindet: "das Bedürfnis nach Ruhe und Sicherheit, um so in einen geordneten Status zurück zu finden" (423). Inklusions- und Exklusionsprozesse funktionierten - so der Autor - über positives und negatives Auftreten im Raum. Entsprechend funktionierten auch Zuschreibungen wie "plündernde Banden", "rote Horden" oder "Noskebanditen" (427). Aulke berichtet allerdings auch von sich spontan aus bestimmten Situationen heraus entwickelnden Gruppenzugehörigkeiten, sowie Sicherheits- und Unsicherheitsräumen, in denen Zivilisten mit Hilfe gewisser symbolbehafteter Verkleidungen eine bestimmte Gruppenzugehörigkeit vorgaukelten.
Ein ausführliches Kapitel der Untersuchung beschreibt die Revolution als "eine Zeit der ständigen Observierung, des Beobachtens und Kartierens des städtischen Raumes" (195). Der Autor kann dies sehr anschaulich an einem bisher zu Unrecht vernachlässigten Quellenbestand nachweisen. Die Spitzeltätigkeit des dem Wehrkreiskommando VI in Münster zugeordneten Nachrichtenbüros Kölpin ermöglichte im Frühjahr 1920 das effektive Einschreiten des Militärs im sogenannten Ruhrkrieg. Durch die Verortung revolutionärer Agitatoren im Ruhrgebiet teilte Bürochef Heinz Kölpin das Ruhrgebiet in Sicherheits- und Unsicherheitszonen ein und kartierte so die Revolutionslandschaft auf eine ganz eigene Art und Weise. Und wieder stellt Aulke fest, dass "die Frage nach der Sicherung des Heimatraumes" eine entscheidendere Rolle gespielt habe, als der Schutz einer bestimmten Regierungsform (248).
Insgesamt hat Julian Aulke eine Dissertationsschrift vorgelegt, die einen raumtheoretischen Ansatz präsentiert, neue Quellen erschließt und der Komplexität ihres Gegenstandes in umfangreichen Kapiteln Rechnung trägt. Orte und Räume der Revolution werden ebenso untersucht wie unterschiedlichste an der Revolution beteiligte Gruppierungen und Institutionen, sowie deren kommunikative Strategien, Protest- und Kampfpraktiken. Dezidiert neue Forschungsergebnissen findet der Leser allerdings in der Fülle an Material und Details nur mühsam und auf der Suche nach den Gründen für die revolutionären Ereignisse der Jahre 1918 bis 1920 findet er wenig überraschende Antworten: Die Erfahrung des Ersten Weltkrieges habe dazu geführt, dass innergesellschaftliche Konflikte nach dem Krieg mit den auf den Schlachtfeldern erlernten Methoden ausgetragen wurden und somit bürgerkriegsähnliche Zustände begünstigt. Daneben habe eine sich seit der Jahrhundertwende zunehmend beschleunigende und als ambivalent empfundene Moderne in der Revolution ihren Kulminationspunkt gefunden (422f.). Eine Neuinterpretation der revolutionären Jahre zu Beginn des sogenannten kurzen 20. Jahrhunderts steht also weiterhin aus.
Anmerkungen:
[1] Ausnahmen waren: Alexander Gallus (Hg.): Die vergessene Revolution von 1918/19, Göttingen 2010; Ulla Plener (Hg.): Die Novemberrevolution 1918/1919 in Deutschland. Für bürgerliche und sozialistische Demokratie. Allgemeine, regionale und biographische Aspekte, Berlin 2009; Volker Ulrich: Die Revolution von 1918/19, München 2009.
[2] Alexander Gallus: Einleitung, in: Ders. (Hg): Die vergessene Revolution von 1918/1919, Göttingen 2010, 7-13, 10f.
[3] Vgl. etwa: Moritz Föllmer / Rüdiger Graf / Per Leo: Einleitung: Die Kultur der Krise in der Weimarer Republik, in: Moritz Föllmer / Rüdiger Graf (Hgg.): Die "Krise" der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters, Frankfurt am Main 2005, 9-41 oder Rüdiger Graf: Die Zukunft der Weimarer Republik. Krisen und Zukunftsaneignungen in Deutschland 1918-1933, München 2008.
[4] Neben dem hier zu besprechenden Buch von Julian Aulke siehe etwa: Karl Christian Führer u.a. (Hgg.): Revolution und Arbeiterbewegung in Deutschland 1918-1919, Essen 2013 und Klaus Weinhauer, Anthony McElligott / Kirsten Heinsohn (eds.): Germany 1916-23. A Revolution in Context, Bielefeld 2015.
[5] Vgl. zum Beispiel schon früh: Martin H. Geyer: Verkehrte Welt. Revolution, Inflation und Moderne, München 1914-1924, Göttingen 1998.
Sophie Stern