Rezension über:

Reinhold Lütgemeier-Davin / Kerstin Wolff (Hgg.): Helene Stöcker: Lebenserinnerungen. Die unvollendete Autobiographie einer frauenbewegten Pazifistin (= L'Homme Archiv. Quellen zur Feministischen Geschichtswissenschaft; Bd. 5), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2015, 390 S., ISBN 978-3-412-22466-0, EUR 39,90
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Rezension von:
Christian Jansen
Abteilung Neuere und Neueste Geschichte, Universität Trier
Redaktionelle Betreuung:
Julia A. Schmidt-Funke
Empfohlene Zitierweise:
Christian Jansen: Rezension von: Reinhold Lütgemeier-Davin / Kerstin Wolff (Hgg.): Helene Stöcker: Lebenserinnerungen. Die unvollendete Autobiographie einer frauenbewegten Pazifistin, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2015, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 7/8 [15.07.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/07/27562.html


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Reinhold Lütgemeier-Davin / Kerstin Wolff (Hgg.): Helene Stöcker: Lebenserinnerungen

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Es ist still geworden um Helene Stöcker. Dabei war sie als radikale Pazifistin, Sexualreformerin, Vorkämpferin für eine Neue Ethik und für den Mutterschutz eine Frau, die gerne öffentlich hörbar war und so gar nicht dem Rollenmodell für bürgerliche Ehefrauen ihrer Zeit - von der Mitte des 19. bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts - entsprach. Waren in den 1990er-Jahren gleich drei Biografien bei mittelgroßen Verlagen erschienen [1], so widmete sich in den letzten 20 Jahren nur noch eine Monografie, die aber als Book on Demand erscheinen musste, der umstrittenen Feministin und Nazigegnerin. [2] Dabei stand sie bereits zu Lebzeiten im "Großen Brockhaus" (1934), und zu ihrem 60. Geburtstag erschienen 1929 teilweise überschwängliche Würdigungen in fast 400 Zeitungen aus ganz Europa.

Kerstin Wolff und Reinhold Lütgemeier-Davin, die seit Langem die politischen Strömungen (sie die Frauen-, er die Friedensbewegung) erforschen, in denen sich Stöcker hauptsächlich engagierte, haben nun die unvollendete Autobiografie Stöckers ediert - eine der wichtigsten Quellen aller bisherigen Stöcker-Biografien. Sie wollen ihre Stimme "wieder hörbar" machen, schreiben sie im Vorwort. Außerdem lief 2013 das Copyright an der Autobiografie aus. Der sorgfältig edierte und - wo nötig - kommentierte Band enthält neben der fragmentarischen und ungleichmäßig ausgearbeiteten Autobiografie (31-272), eine Reihe von Fotografien und Karikaturen der Protagonistin und ihres Umfeldes (273-280) sowie eine Reihe von Dokumenten - zumeist Briefe, aber auch andere ergänzende Materialien (340-375). Zwischen den Fotos und den Dokumenten stehen 60 Seiten, in denen die Herausgeberinnen Helene Stöcker in ihr politisch-kulturelles Umfeld "einordnen" (281-339). In dieser Kommentierung in rund 20 zwei bis sechs Seiten langen Miniaturen liegt ein wesentlicher Ertrag des Bandes. Denn hier zeigen Wolff und Lütgemeier-Davin ihre große Kennerschaft der politisch-sozialen Bewegungen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts.

Stöcker war nie eine Linientreue. Mit allen Bewegungen, in denen sie mitarbeitete, geriet sie irgendwann in Konflikte. Dies galt besonders für die Frauenbewegung. Denn Stöcker war einerseits nicht zimperlich, wenn es um Machtkämpfe und einflussreiche Posten ging. Andererseits reagierte sie empfindlich auf Kritik. Ihren Mitstreiterinnen warf sie unter anderem vor, ihre Sexualität mit Männern nicht auszuleben - sie seien "Nonnen", die "die natürlichen Sphären des Lebens" ignorierten (299). Sie griff damit das in der Frauenbewegung dominante Modell der Frauenfreundschaft bis hin zu lesbischen Beziehungen an, kritisierte aber andererseits auch die Frauen- und Mutterrolle scharf und prangerte die Doppelmoral an, die Männern außereheliche Beziehungen als Kavaliersdelikt durchgehen ließ. So werde "die eine Frau zu Dirne, die andere zum mißachteten 'Verhältnis', die dritte zur verlassenen außerehelichen Mutter, während wieder ein Teil der Frauen sich ihr ganzes Leben von der Liebe fernhalten musste, um sich für die Ehe [...] 'rein genug' zu erhalten" (1905; 292). Stöcker nahm das Gleichheitspostulat der Frauenbewegung radikal ernst und wandte es auf die Liebe an: freie und erfüllte Sexualität stand auch den Frauen zu.

Während solche Analysen aktuell erscheinen, werden Stöckers eugenische Forderungen, "unheilbar Kranke und Entartete" seien "an der Fortpflanzung zu verhindern" (1905; 290), heute abgelehnt. Das feministisch oder sozialistisch begründete Plädoyer für Eheverbote, Zwangssterilisation etc. ist nach dem Nationalsozialismus, angesichts sinkender Geburtenraten und in Zeiten neonatologischer und pädiatrischer Intensivmedizin nicht mehr nachvollziehbar. Für Stöcker war die Eugenik aber nur die andere Seite ihres äußerst konsequenten Verständnisses von Mutterschutz. Da 'vor der Pille' ihr Plädoyer für freie Sexualität viele uneheliche Kinder bedeutete, verlangte Stöcker die "Anbahnung einer staatlichen Mutterschaftsversicherung". Sie sollte allen bedürftigen Müttern nicht nur "zureichende ärztliche Hilfe und sachkundige Pflege während der Schwangerschaft und des Wochenbettes gewährleisten, sondern auch weiter die Erziehung des Kindes bis zu dessen eigener Erwerbstätigkeit sicherstellen" (289). Wo es keinen rechtlichen Vater gab, sollte Vater Staat einspringen!

Für Stöckers rationalistisches, wissenschafts- und fortschrittsgläubiges Denken bildete die Kriegsbegeisterung, die sich 1914 bis weit in die politische Linke hinein offenbarte, einen Schock und bewirkte die Hinwendung der Frauenrechtlerin zum radikalen Pazifismus. Bereits am 1. August schrieb sie in radikaler Distanz zum bürgerlichen Zeitgeist in ihr Tagebuch: "Das Völkermorden kann also beginnen. Was ist nun noch Gutes auf dieser Erde zu erwarten?"

Der Kern des Bandes - die "Autobiografie" - ist keineswegs eine geschlossene Reflexion des ereignisreichen, immer politisch engagierten, aber auch privat wagemutigen Lebens dieser Großbürgertochter. In ihre autobiografischen Texte hat schon Stöcker immer wieder Originaldokumente wie Briefe oder Auszüge aus ihren Tagebüchern eingestreut. Die Herausgeberinnen haben nicht nur aus mehreren überlieferten Fassungen einen halbwegs stringenten Text kompiliert, sondern weitere Materialien eingefügt. Diese Eingriffe in den Originaltext sind in der Einleitung dokumentiert und begründet.

Über die materielle Basis ihres immer großzügigen Lebenszuschnitts schweigt Stöcker, und ihre Editoren geben nur knapp Auskunft, dass das Vermögen ihres Lebensgefährten Bruno Springer, der 1931 gestorben war, sie "leidlich abgesichert" habe (23). Immerhin lebte sie in einer repräsentativen Villa in Berlin-Nikolassee, bis sie 1933 vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten flüchten musste. Ihre Herzprobleme, aber auch Depressionen kurierte sie in teuren Sanatorien und Hotels. Auch in den Passagen über Stöckers Exil in der Schweiz und in Schweden ist von materiellen Sorgen nicht die Rede. Die ökonomische Basis eines solchen unabhängigen und rebellischen Lebens zu kennen, würde die Bewunderung für eine Frau wie Stöcker, die Wolff und Lütgemeier-Davin trotz ihrer wissenschaftlichen Herangehensweise nicht verhehlen, nicht schmälern. Für die Forschung über politisch-kulturelle Dissidenz im Kaiserreich und der Weimarer Republik bis zu ihrer Ausrottung und Vertreibung durch die Nazis macht diese Edition spannendes Material leichter zugänglich.


Anmerkungen:

[1] Vgl. Christl Wickert: Helene Stöcker 1869-1943. Frauenrechtlerin, Sexualreformerin und Pazifistin. Eine Biographie, Bonn 1991; Rolf von Bockel: Philosophin einer "neuen Ethik". Helene Stöcker (1869-1943), Hamburg 1991; Gudrun Hamelmann: Helene Stöcker, der "Bund für Mutterschutz" und "Die Neue Generation", Frankfurt am Main 1998.

[2] Annegret Stopczyk-Pfundstein: Philosophin der Liebe. Helene Stöcker, Norderstedt 2003.

Christian Jansen