Gabriella Erdelyi (ed.): Armed Memory. Agency and Peasant Revolts in Central and Southern Europe (1450-1700) (= Refo500 Academic Studies; Vol. 27), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2016, 361 S., ISBN 978-3-525-55097-7, EUR 100,00
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Der Charakter eines Sammelbandes bringt es mit sich, dass Herausgeber den schmalen Pfad zwischen Stringenz und Diversität zu beschreiten versuchen. Gabriella Erdélyi gelingt dies vorzüglich. Dies ist auch nötig, da der Titel und die darin enthaltenen Jahreszahlen nur einen Teil der Abhandlungen abdecken. Außerdem findet sich die schillernde Vokabel "agency" in den Texten nur selten wieder, und umgekehrt kann ein einzelner Band selbstverständlich nicht das Interesse an "peasant revolts in Southern and Central Europe" vollständig befriedigen, auch nicht, wenn es - wie im vorliegenden Band - gelingt, mit Peter Blickle einen Altmeister für einen bestens gelungenen Überblick zu gewinnen.
Im Zentrum der hier präsentierten Aufsätze steht der gegen den Adel umgeleitete ungarische Kreuzzug von 1514, der in der schrecklichen Hinrichtung der Führungsgruppe um den freien Székler György Dózsa quasi gipfelte. Es war kein Geringerer als Friedrich Engels, der diesen Kreuzzug als Erster in europäischer Perspektive erwähnt hat, wenngleich in einer konstruierten Ahnenreihe des "Großen Deutschen Bauernkrieges" von 1524-1526, und ihm damit gleichzeitig seinen Eigensinn entzog. Engels stand in dieser Hinsicht nicht alleine. Bereits die Humanisten, die das europäische Publikum im Laufe des 16. Jahrhunderts mehrfach an den Dózsa-Aufstand erinnerten, verwandelten ihn in einen antikisierten Topos, wie mehrere Beiträge des Sammelbandes philologisch genau nachweisen. Die Darstellung des instrumentellen Umgangs der folgenden Regime mit dem Ereignis, der immer neu erfolgenden De- und Rekonstruktionen zieht sich als ein roter Faden durch den Band.
In seiner unmittelbaren zeitlichen Umgebung scheint das Ereignis europäische Bedeutung weniger durch die Forderungen und Aktionen der Aufständischen gewonnen zu haben, offenbar auch weniger durch die in der Vergangenheit bisweilen betonten Folgen für die ungarische (Agrar-)Verfassung, als durch die brutale Hinrichtung, die im Zentrum mehrerer Beiträge steht. In zahlreichen Abhandlungen und Abbildungen auf dem Kontinent bekannt gemacht, war das Geschehen noch sechzig Jahre später so präsent, dass durch die Hinrichtung von Matija Gubec, des Anführers des kroatisch-slowenischen Bauernaufstandes von 1573, der europäischen Öffentlichkeit ein makabres Déjà-Vu beschert wurde. Man fragt sich, ob der Horror dieser beiden Hinrichtungen adäquat getroffen ist, wenn in einem Beitrag die (so schwer nicht zu erkennende) Symbolik entschlüsselt und damit in gewisser Weise die Ungeheuerlichkeit relativiert wird, ob es vielleicht nicht eher angebracht wäre, darin einen Akt der terreur avant la lettre zu erkennen, und dies nicht nur vor dem Hintergrund heutiger Monstrositäten und ihrer öffentlichen Präsentation.
Um den Dózsa-Aufstand gruppiert sind Beiträge zu einigen anderen Protestereignissen und -formen, um einen Ausdruck zu bemühen, der etwas vom Begriff der "peasant revolts" wegführt, der die Titelsignale aussendet. Inwieweit die Kompromisse, die die Hutterischen Brüder in Mähren eingehen mussten, um im Schutz des regionalen Adels einen modus vivendi im strengen Sinne des Wortes zu finden, als "institutionelle Rebellion" zu begreifen sind, sei dahingestellt. Eine geradezu klassische Darstellung im Sinne des Titelsignals ist der Bauernbewegung von 1462 im Gebiet von Piacenza gewidmet. Es handelte sich um eine (Salz-)Steuerrevolte, die der Autor Marco Gentile klug mit den Darstellungen vergleicht, die mittlerweile zu Klassikern gewordene Autoren wie Poršnev und Mousnier von den französischen Steuerrevolten des 17. Jahrhunderts gegeben haben. Ähnlich wie in jenen suchten die norditalienischen Bauern von 1462 Anlehnung bei örtlichen Grundherren. Anders als das (spätere) französische Modell war der Ablauf , die agency, im Gebiet von Piacenza seitens der Bauern viel weniger von gewaltsamen Ausbrüchen als von Verhandlungsangeboten geprägt, die letztlich auf der Vorstellung von mutualistischen Verantwortlichkeiten basierten, von denen die Protestpartei glaubte, dass es sich um gemeinschaftliche, d.h. auch bei den Repräsentanten von Staat und Grundherrschaft vertretene Grundsätze handele.
Mit dem Hinweis auf friedliche Intentionen der Protestpartei und (womöglich) "gemeinsame Werte" von Protestpartei und -adressaten wird ein Verfahren angeschnitten, das sich als weiterer Faden durch den Band zieht: der Abschied von bequem, vielleicht auch lieb gewordenen Gewissheiten über "peasant revolts". So ganz neu ist die Betonung bäuerlicher Verhandlungsbereitschaft selbstverständlich nicht, denn zumindest in den deutschen Territorien waren die Revolten seit dem Spätmittelalter - mitsamt der Anfangsphase des Bauernkrieges - gleichfalls eher davon gekennzeichnet als von eruptiver Gewaltanwendung. Dass allerdings auch der Bauernkrieg bei genauerem Hinsehen noch Überraschungen bereithält, verdeutlicht der Beitrag von Giorgio Politi, der ein Dokument, das bisher als Michael Gaismairs Entwurf einer "Landesordnung" für Tirol verstanden wurde, in den tatsächlichen Überlieferungskontext stellt. Nach Ansicht des Verfassers könnte es sich eher um eine mehr oder weniger fiktive Rede eines Hauptmanns der Aufständischen handeln. Als erstaunlichstes Ergebnis bleibt, dass in Gaismairs angebliche Landesordnung von quasi allen historiografischen Richtungen bezüglich der Bergwerksorganisation früh- bzw. vorsozialistische Elemente hineingelegt wurden, ohne zu bedenken, dass die Tiroler Bergwerke gar nicht verstaatlicht werden mussten, da sie sich originär in staatlicher Regie befanden.
Zur Dekonstruktion vermeintlicher Gewissheiten trägt auch der Beitrag von Katalin Péter bei, in dem nachgewiesen wird, dass es nicht nur Schweizer, niederländischen oder auch englischen Gemeinden gelang, sich durch einmalige Zahlung einer beträchtlichen Summe von Feudallasten freizukaufen, sondern auch einer Reihe von ungarischen Gemeinden und Individuen, und zwar vor und nach dem Aufstand von 1514, in den ungarischen Fällen teilweise auch von der Leibeigenschaft. Dass sich dieser Art von agency auch eine Stadt wie Debrecen bedienen musste, stellt allerdings die Frage nach der europäischen Vergleichbarkeit.
Die Beispiele von Katalin Péter sind, zusammen mit ähnlichen Andeutungen in einigen anderen Beiträgen, in einem Kontext zu sehen, der in der Einleitung stärker entfaltet wird. Es geht u.a. um den honorigen und durch vielfältige Forschungen der letzten Jahrzehnte gerechtfertigten Versuch, die historiografisch bewirkte Spaltung des Kontinents in eine grund- und eine gutsherrschaftliche Hälfte zu revidieren. Dabei wird manchmal vergessen, dass auch die ältere Historiografie den Osten des Kontinents nicht in das Einheitsgrau einer flächendeckend uniformen Gutsherrschaft tauchte. Die Unterschiede z.B. zwischen dem einen Tag Frondienst in der Woche, der jedem verheirateten ungarischen Bauern nach 1514 "gesetzlich" aufgebürdet wurde, wenn er überhaupt ausgeführt werden musste, und den Leistungen, die im weiteren Verlauf des 16. Jahrhunderts z.B. in zahlreichen Herrschaftseinheiten Mecklenburgs oder Pommerns verlangt wurden, sind auch älteren Darstellungen nicht unbewusst.
Auf Quellenfunden in den Vatikanischen Archiven beruht der Beitrag der Herausgeberin. Sie analysiert Schriftstücke aus dem Kreis von fahrenden Studenten und niederen Klerikern, mit denen diese eine (Wieder-)Zulassung zum Priesteramt erreichen wollten, das ihnen wegen ihrer Teilnahme am Aufstand unzugänglich geworden war. Damit kommt der Beitrag der in der Einleitung formulierten Aufforderung nach, die Sichtweise der unmittelbar Beteiligten stärker zur Geltung zu bringen. Wie schwer dies zu realisieren ist, zeigt die Tatsache, dass es nur wenigen anderen Beiträgen gelingt. Inhaltlich stützen die Quellenfunde der Herausgeberin die um 1970 entwickelte These von Jenö Szücz, nach der es zahlreiche Angehörige der Franziskaner Observanten waren, die durch ihre Predigten und Interventionen maßgeblich an der Umlenkung des Kreuzzuges beteiligt waren.
Stark auf den Dózsa-Aufstand konzentriert, repräsentiert der Sammelband eine breite thematische Vielfalt und gewährt damit vorzügliche Einblicke in gegenwärtige Forschungstendenzen und -thesen, von denen einige bereits zuvor in nicht allen Lesern leicht zugänglichen Sprachen (ungarisch, kroatisch, auch italienisch) publiziert worden sind. Selbstverständlich handelt es sich um eine Materie, die, wie nicht zuletzt im vorliegenden Band nachgewiesen, "schon immer" das Interesse, das Engagement und oft auch die Fantasie von Beobachtern und Analytikern verschiedenster Couleur geweckt hat und die daher noch lange nicht ausdiskutiert sein dürfte.
Werner Troßbach