Jean-Paul Clément: Charles X. Le dernier Bourbon, Paris: Editions Perrin 2015, 567 S., 13 Farbabb., ISBN 978-2-262-04386-5, EUR 26,00
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Yannick Guillou: Haxo 1774-1838. Successeur de Vauban, Moyenmoutier: edhisto 2015, 532 S., ISBN 978-2-35515-018-0, EUR 21,00
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Biografien sind als fachspezifisches Hauptgenre der Historiografie etabliert. Der damit oft verbundene klassische Fokus auf vermeintlich große Gestalten, welche "Geschichte mach(t)en", kann jedoch leicht eine andere Facette überdecken - jene der Vergessenen, der angeblichen Verlierer, der Unzeitgemäßen. In diese Kategorie gehören scheinbar die beiden hier im Mittelpunkt stehenden Persönlichkeiten, deren Lebensläufe in exakt die gleiche Epoche fielen: Charles X (1757-1836), der letzte französische Monarch der Restaurationszeit und François Nicolas Benoît Haxo (1774-1838), der heute nahezu unbekannte maßgebliche Fortifikationsspezialist von einstmals universaler Reputation.
Ein weiterer die beiden Protagonisten dieser Zeilen verbindender Punkt ist das ihnen zuteilgewordene letztlich unbefriedigende publizistische Echo: während zu Haxo die letzte biografische Würdigung in monografischer Form unmittelbar nach seinem Tode erschien und somit 178 Jahre zurückliegt [1], erweist sich für Charles X die Situation ungleich komplexer. Erste Lebensdarstellungen blieben den französischen Lagerbildungen nach 1830 verhaftet; sie sind mehr als Dokumente innerer Spaltungen einer nicht zur Ruhe gelangten politischen Landschaft zu sehen, denn als eigentliche Biografien. [2] Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts sah dann zwar eine Reihe von Publikationen zu Leben und Zeit des Königs, aber sie alle blieben entweder den erwähnten gesellschaftlichen Antagonismen treu oder aber wiesen andere Ungewöhnlichkeiten auf. War Vivent [3] noch sehr im Anekdotischen verhaftet, so erwies sich die durchaus lesenswerte Studie von Garnier [4] als Werk eines Historikers "non point par dilettantisme, mais, apparaît-il, autant par curiosité d'esprit que par besoin d'aller au fond des choses ; historiographe d'un homme et d'un ensemble de faits qui l'attiraient en lui semblant à la fois célèbres et mal connus". [5] War Garnier Diplomat und Publizist, so entstammte ein weiterer Biograf des Königs der Welt des hohen Verwaltungsrechts, der später begann, sich als Romancier zu betätigen. José Cabanis' Werk [6] kann daher ebenso wenig den Rang einer historischen Arbeit im eigentlichen Sinne beanspruchen, wie die wiewohl im Gesamtkontext seines Œuvre durchaus heraus stechende Lebensskizze des "Vielscheibers" André Castelot. [7] 1971 konnte daher der Amerikaner Vincent W. Beach durchaus zu Recht behaupten, nunmehr die bis dato einzige wissenschaftlichen Kriterien vollauf genügende Biografie vorzulegen. [8] An dieser Situation hat sich nichts geändert, da Éric Le Nabour seine 1981 erschienene Studie im Alter von 17 Jahren als eher großangelegten Essay verfasste [9] und die maßgeblichen Beiträge Landric Raillats nur Einzelaspekten gewidmet blieben. [10]
Umso willkommener erscheinen daher auf den ersten Blick die vorliegenden beiden Studien zu zwei von der Geschichtsschreibung nicht gerade verwöhnten, dabei aber zentralen Gestalten einer der bedeutendsten Umbruchszeiten. Ihr Hintergrund konnte ungleicher nicht sein, ihre anfänglichen Aufstiegschancen hingegen zeigen Berührungspunkte, schien doch für den 1757 geborenen vierten Sohn des Dauphin Louis und seiner Gemahlin Marie Josèphe de Saxe die Wahrscheinlichkeit einmal König von Frankreich zu werden ebenso weit entfernt, wie jene des 21 Jahre später im relativ abgelegenen Lunéville zur Welt gekommenen lothringischen Bürgersohns, einmal Baron d'Empire und General zu werden. Die wiederum elf Jahre später beginnenden großen Umbrüche aber eröffneten beiden ungeahnte Perspektiven: der bis dato vor allem durch sein Lotterleben aufgefallene Prinz (liest man Beach, gewinnt man den Eindruck, der Comte d'Artois sei zu 70 Prozent für den Ausbruch der Revolte von 1789 allein verantwortlich) wurde zum Führer der entschlossenen Traditionspartei der französischen Emigranten und Leitfigur einer zukünftigen Restauration; für den schon frühzeitig in den Militärdienst getretenen Haxo aber lieferten die ab 1793 quasi unablässig tobenden europäischen Kriege die Sprossen seines Aufstiegs auf der Karriereleiter.
Während Charles die Bitterkeit von Exil und Misserfolgen schmecken musste, erwies Haxo sich immer mehr als der führende Festungsingenieur und Belagerungsstratege zunächst Frankreichs, dann ganz Europas; 1807 holte man ihn sogar nach Konstantinopel, um dort den Fortifikationsgürtel zu erneuern. Der kurzlebige Triumph des napoleonischen Kaiserreiches bescherte Charles den Tiefpunkt seiner Ambitionen, Haxo aber den Zenit seines Ansehens: 1807 nach der Belagerung von Saragossa zum Oberst, 1809 nach Wagram zum Offizierskreuzträger der Ehrenlegion und 1810 nach den Belagerungen von Lerida und Mequinenza zum Brigadegeneral erhoben, gehört er im Russlandfeldzug als Erster Adjutant zur unmittelbaren Entourage Napoleons. Der Fall des Korsen und die wider aller Erwartungen schließlich doch eingetretene Restauration führt zu einer Umkehr der Fortune: Charles wird zur grauen Eminenz am Hof des ungeliebten Bruders Louis XVIII, Haxo immerhin als Kommandant der Königlichen Garde in Gnaden übernommen. Doch wie Charles - dies die auffallende Übereinstimmung der Persönlichkeiten - bleibt Haxo seinen Idealen ein Leben lang treu: kaum kehrt Napoleon zurück, betreibt er den Ausbau der Festung Paris und kämpft für seinen Mentor bei Waterloo. Dies bringt ihm ein, was Charles zuvor erfahren musste: zunächst Verlust aller Ämter und Würden, erst 1819 die Wiederaufnahme in die Armee. 1825 erlebte Charles bei seiner Weihe zu Reims, als er nun tatsächlich als dritter Prinz seiner Generation den Thron besteigen kann, den Höhepunkt seines Lebens, 1830 den letzten entscheidenden Rückschlag im Zuge der Juliwirren und des Verrates des Herzogs von Orleans. Dessen Regierung als Louis Philippe Ier beschert Charles schließlich sein letztes Exil, Haxo aber, 1832 zum Pair de France erhoben, seinen größten Erfolg: 1832 verdanken die französischen Interventionsverbände im belgischen Aufstand seinem Genie (im doppelten Sinne des Wortes) die Eroberung der Festung Antwerpen.
2015 erschienen hierzu nun zwei den beiden hier skizzierten Personen gewidmete umfangreiche Werke von zusammen 1100 Textseiten, zwei Publikationen, welche ihrerseits unterschiedlicher nicht hätten ausfallen können. Jean-Paul Clément verortet seine Biografie eindeutig in der Tradition der homme-de-lettres-Literatur, Yannick Guillous Band ist ebenso eindeutig dem Prinzip der eher akademischen Aufarbeitung verpflichtet; beides muss a priori weder als automatisch positiv oder negativ konnotiert erscheinen. Beide Darstellungen verbindet eine jeweils angenehme Sprache, deren Stil die doch umfangreiche Lektüre nicht nur erleichtert, sondern beflügelt. Ein kleiner Blick in die Anhänge aber offenbart sodann die manifesten Unterschiede: während Guillou auf ein umfangreiches archivalisches Quellenverzeichnis und die quasi durchgehende Verwendung derselben als Beleg seiner geleisteten Arbeit verweisen kann, fällt dies bei Clément nichtssagend mager aus, die vorhandenen Anmerkungen verstehen sich fast ausschließlich als gedankliche Erweiterungen und Kommentare des Fließtextes. Von den bei Beach schon 1971 ausführlich aufgearbeiteten Archivbeständen ist nur ein Bruchteil hier miteinbezogen, mehr noch: die doch grundlegende, wenn auch nicht in allen Punkten widerspruchslos zu rezipierende Arbeit Beachs wird nicht einmal in der Bibliografie erwähnt, geschweige denn die Aufsätze des gleichen Autors zu Einzelaspekten [11]; offenbar sind sie dem Verfasser unbekannt. Folglich unterbleibt auch jegliche Auseinandersetzung mit den zentralen Beach'schen Thesen, vor allem hinsichtlich der Rolle des Grafen von Artois während der zentralen Jahre 1788-1791. Die Folgejahre hingegen werden besser aufgearbeitet, beziehungsweise dargestellt, Gesellschaft und Welt von Exil und Restauration sind ganz offenbar Schwerpunkte des Verfassers, der hierzu auch schon mehrere Veröffentlichungen vorlegte. Generell aber erreicht die Dichte der Erörterung fast niemals das von Beach vorgegebene Niveau, im nachvollziehbaren Verweis auf Memoiren und Archivalien erweisen sich sogar Cabanis und Castelot als der neuen Studie überlegen. Diese Bemerkungen sollen keineswegs dahingehend verstanden werden, dieser jegliche Meriten abzusprechen; allein, der Nutzen einer so groß angelegten Publikation erschließt sich nicht durchgehend.
Ganz anders verhält es sich hierbei mit Guillous Werk, welches, dies sei fairer Weise gesagt, sich auch nicht von einer derart disparaten Vorgängerbibliografie absetzen musste. Hier sind Dokumentation und Analyse durchgehend nicht nur als akribisch-vorbildlich zu sehen, der Leser taucht trotz und gerade aufgrund der minutiösen Einzelbelege förmlich ein in die ganz besondere Welt des Protagonisten. Hieran hat die Breite des Untersuchungsansatzes einen nicht geringen Anteil: weit entfernt davon, eine reine Militärsvita zu liefern, lässt Guillou den Betrachter am tatsächlich ganzen Leben seines Helden teilnehmen. Dies beginnt bei der Darstellung der lothringischen Kindheit, reicht über das Milieu der Offiziersausbildung bis hin zu den großen Salons des napoleonischen Paris und der Welt der Restauration. Gerade hier erweist sich die parallele Lektüre beider Bücher als gewinnbringend, da die unterschiedlichen Blickwinkel sprechend eine vielschichtige société erschließen helfen.
Im vergleichenden Endergebnis stehen sich also zwei biografische Zeitpanoramen von deutlich verschiedenem Gehalt gegenüber: während man Cléments Werk durchaus als Summe lesen kann, empfiehlt sich Guillous als Referenzwerk nahezu uneingeschränkt. Bleibt für Charles X Beach weiterhin das Grundlagenwerk, so wird mit Haxos Biografie eine Arbeit präsentiert, die deutlich Vorbildcharakter nicht nur für Lebensdarstellungen der Zeit um 1800 aufweist - ein eindeutiges must read für alle an Zeit und Genre Interessierten.
Anmerkungen:
[1] Gabriel Mengin: Notice nécrologique sur le lieutenant-général Baron Haxo, Paris 1838.
[2] Dies gilt auch für die umfangreiche Arbeit von: Prosper Vedrenne: Vie de Charles X. Roi de France, 3 vols., Paris 1878.
[3] Villebrumier (i.e. Jacques Vivent): Charles X. Dernier roi de France et de Navarre, Paris 1958.
[4] Jean-Paul Garnier: Charles X. Le Roi, le proscrit, Paris 1967.
[5] So J.H. Bornecque über eine andere Studie von Garnier (Murat. Roi de Naples, Paris 1959), in: Le monde diplomatique, novembre 1959, 8.
[6] José Cabanis: Charles X. Roi ultra, Paris 1972; vgl. hierzu die Besprechung von Maurice Agulhon in: Annales 28 (1973), Nr. 3, 805-807.
[7] André Castelot: Charles X. La fin d'un monde, Paris 1988 (Ndr. ebd. 1997).
[8] Vincent W. Beach: Charles X of France: His Life and Times, Boulder, Col. 1971.
[9] Éric Le Nabour: Charles X le dernier roi, préface d'Alain Decaux, Paris 1980.
[10] Landric Raillat: Charles X ou le Sacre de la dernière chance, Paris 1991.
[11] Die Liste der der Gesamtbiografie vorausgegangenen Arbeiten in: Beach: Charles X, 463.
Josef Johannes Schmid