Elke Hartmann: Die Reichweite des Staates. Wehrpflicht und moderne Staatlichkeit im Osmanischen Reich 1869-1910 (= Krieg in der Geschichte (KRiG); Bd. 89), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2016, 470 S., ISBN 978-3-506-78373-8, EUR 58,00
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Die Wehrpflicht als "Wehrform der Moderne" ist das Thema der in der Reihe "Krieg in der Geschichte" erschienenen Dissertation der Geschichts- und Islamwissenschaftlerin Elke Hartmann. Sie betrachtet die Konskription unter einem strikt modernisierungsgeschichtlichen Blickwinkel als ein Element der "Errichtung eines modernen Staatswesens im Osmanischen Reich" (17). Im Zentrum der Studie steht eine "ausführliche Analyse" der entsprechenden Gesetzgebung (20), der Blickwinkel ist der des "Staates", weniger derjenige der "einzelnen Betroffenen" (23). Dies ergibt sich aus dem Stand der Quellenerschließung, die in diesem Kontext, so die Autorin, "gerade erst" begonnen habe, genauso wie eine systematische wissenschaftliche Aufarbeitung des Themas (17).
Der Mangel an geeigneten Quellen führt etwa dazu, dass die Verfasserin ideologische Aspekte der Thematik wie die Verknüpfung von Wehr-Pflicht mit Partizipations-Rechten weitgehend außen vor lässt. Hinsichtlich der Integrationsfunktion des Militärdienstes, die Hartmann am Beispiel der Vielvölkerreiche Österreich und Russland vorstellt, fällt ihr Fazit für das Osmanische Reich negativ aus: Dort sei es nie gelungen, wirklich alle Bevölkerungsgruppen ideell und faktisch in den Staat einzubeziehen. Dies habe sich vor allem in der bis zur jungtürkischen Revolution 1908 durchgehaltenen Exklusion der Nichtmuslime vom Militärdienst niedergeschlagen (60). Neben dieser ideologisch motivierten Ausnahme existierten auch pragmatische Exemtionen. Die Verfasserin stellt unter anderem die Beispiele Istanbul, Medina, Mekka oder Bosnien vor. Diese Exemtionen trugen schlicht der "fehlenden Reichweite des Zentralstaats" Rechnung (61). Diese Reichweite über eine "relativ kleine Kernregion in Westanatolien und Ostthrakien schrittweise" auszudehnen, stand laut Hartmann im Mittelpunkt eines "Modernisierungsprozesses", der im militärischen Bereich seinen Ausgang nahm (64f.).
Die Widerstände gegen die Modernisierung versuchte die Administration in Istanbul auf durchaus geschickte Art und Weise zu lösen, wie die Autorin anschaulich erläutert. Zum einen bedienten sich die Behörden vertrauensbildender Maßnahmen, etwa im Zusammenhang mit der eigentlichen Rekrutenauswahl. Die Herstellung der Lose für die Ermittlung der einzuziehenden Dienstpflichtigen wurde bis ins Detail vorgeschrieben, "um Manipulationen bei der Auslosung zu verhindern" (232). Mit der Ziehung wurde der lokale "Mufti", der als religiöse Instanz das "Ideal der Obrigkeitsferne" bzw. der Neutralität verkörperte (230), betraut. Diese Maßnahmen dienten dazu, einen "Eindruck von Gerechtigkeit und Transparenz" zu schaffen und die Akzeptanz der Konskription zu fördern (207).
Zum anderen ging die Verwaltung bei der Ausweitung der Dienstpflicht wenn nötig sehr behutsam vor. Randprovinzen wurden durch abgeschwächte Versionen des Wehrdienstes schrittweise an diesen gewöhnt. In Bosnien etwa dienten temporäre Exemtionen und die Aufstellung "irregulärer Einheiten mit lokal begrenzten Aufgaben" dazu, die ungeliebte Dienstpflicht perspektivisch realisierbar zu machen (295). Die freiwillige Beschränkung auf die Aushebung von Reservetruppen umging die "besonders sensiblen Punkte der Kasernierung und des Einsatzes fern der Heimat" und bot zumindest die Möglichkeit, "die Bevölkerung zu erfassen und in das allgemeine Grundsystem der Heeresorganisation einzugliedern" (296). Dem misst Hartmann große Bedeutung zu, denn die Registrierung von Individuen sieht sie als "Kernstück moderner staatlicher Kontrolle" (348). Die fortlaufende Überarbeitung der Rekrutierungslisten deute darauf hin, dass die Regierung in diesem zentralen Punkt durchaus Fortschritte machte (122).
Außerdem bediente sich die Verwaltung bei der Implementierung der Dienstpflicht auch diskursiver Praktiken, wie Hartmanns minutiöse Exegese der Gesetzestexte zeigt. So sprachen die Behörden gegenüber bestimmten Gruppen lediglich von einer "Möglichkeit, rekrutiert zu werden", wodurch sie ein "diskursives" Fundament für eine spätere, tatsächliche Einberufung legten. Die Ergreifung von Verweigerern wurde nie als Ziel, sondern als tatsächliche Praxis staatlichen Handelns dargestellt: Die Refraktäre "werden gesucht und gefunden, einberufen und in Dienst gesetzt" (197). Auf diese Weise sollte "der Anspruch uneingeschränkter Reichweite und Kontrollgewalt" des Staates zumindest formuliert werden (196). Im Laufe des Reformprozesses wurde der Wehrdienst schließlich durch das Attribut "heilig" aufgewertet (199). Der im deutschsprachigen Raum im Laufe des 19. Jahrhunderts zu beobachtende Ansehenswandel des Wehrdienstes vom Strafinstrument zur Ehrensache spiegelte sich im Osmanischen Reich demnach zumindest in der Behördensprache.
Die tatsächliche Bewertung seitens der Bevölkerung bleibt freilich unausgelotet. Das gleiche gilt für die statistische Akzeptanz des neuen Systems. Aussagen über den Prozentsatz von Verweigerern und Deserteuren unter den Wehrpflichtigen, kann die Autorin aufgrund ihrer Quellenbasis nicht treffen. Mittels einer "breiteren Bearbeitung sowohl des Militärarchivs und möglicherweise auch regionaler Bestände" könne diese Lücke eventuell in der Zukunft geschlossen werden (163). Zumindest vom juristisch fixierten Anspruch des Staates her seien jedoch "immer mehr Männer aus immer mehr Jahrgängen aus immer mehr Provinzen und mit immer weniger Ausnahmen" zum Wehrdienst herangezogen worden (97).
Trotz aller Rückschläge und bis zum Ersten Weltkrieg ungelöster Probleme zeichnet Hartmann somit als Ergebnis ihrer Studie das Bild eines stetig wachsenden Zugriffs des Zentralstaats. Dieses Bild eines sich zumindest partiell erfolgreich modernisierenden Imperiums ordnet die Verfasserin in das Bestreben ein, der Betrachtung der osmanischen Geschichte aus der Perspektive der Nachfolgestaaten eine übernationale, "imperiale" Historiographie entgegenzustellen (352). Die Autorin verweist dabei darauf, dass Exemtionen bestimmter Gebiete von der Wehrpflicht nicht einseitig als "erster Schritt zur Distanzierung und Loslösung" vom Zentralstaat, sondern vielmehr als Auftakt der Einbindung in denselben dienten (354).
So schwierig sich der osmanische Modernisierungsprozess auch gestaltete, er kann keineswegs als Geschichte bloßen Misslingens gedeutet werden, dies ist wohl die zentrale Botschaft der Studie. Ihr Wert liegt vor allem in der minutiösen Darstellung des Wehrpflichtsystems, die als Grundlage weiterführender Forschungen von großem Wert sein dürfte. Beeindruckend ist auch der Anhang, der "die organisatorische Struktur der Truppenverbände" in allen Einzelheiten nebst der "kompletten Liste der Rekrutierungsbezirke mit allen über die Jahrzehnte hinweg vorgenommenen Modifikationen" enthält (338). Dass sich die Arbeit auf den bürokratischen Aspekt der Wehrpflicht beschränkt und die ideologischen Komponenten und konkretren Auswirkungen für die Betroffenen nur am Rande behandelt, macht sie etwas spröde und nicht gerade zu einem Lesegenuss. Für eine Dissertation wirkt diese Beschränkung jedoch durchaus angemessen und schmälert nicht das Verdienst der Autorin, hier echte Grundlagenforschung geleistet zu haben.
Sebastian Dörfler