Förderverein für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung e. V. (Hg.): Linke Betriebsintervention, wilde Streiks und operaistische Politik 1968 bis 1988. Arbeit - Bewegung - Geschichte. Zeitschrift für historische Studien 2016/I, Berlin: Metropol 2016, 231 S., ISBN 978-3-86331-281-7, EUR 14,00
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Seit dem Ausbruch der aktuellen Phase der Weltwirtschaftskrise 2007 kommt es weltweit nicht nur zu einer nicht endenden Folge von sozialen Protestbewegungen, vom "Arabischen Frühling" bis zu den Bewegungen der Platzbesetzungen, auch Arbeitskämpfe nehmen wieder zu. Teilweise kommt es auch zu einer Verbindung der Protestformen, wie sich etwa momentan in Frankreich beim Widerstand gegen die Änderungen im Arbeitsrecht zeigt. Selbst im eher als Streik-Entwicklungsland bekannten Deutschland gab es 2015 das höchste Streikaufkommen seit 1992. Diese Entwicklung führt auch dazu, dass nicht nur in Teilen der politischen Linken, die spätestens Anfang der 1980er-Jahre ihren "Abschied vom Proletariat" (André Gorz) nahm, sondern auch im akademischen Kontext das Thema langsam wieder an Bedeutung gewinnt. Der Schwerpunkt der Ausgabe 1/2016 der Zeitschrift "Arbeit Bewegung Geschichte" zu "Linke Betriebsintervention, wilde Streiks und operaistische Politik 1968-1988" kommt da also genau zum richtigen Zeitpunkt.
Die Zeitschrift "Arbeit - Bewegung - Geschichte" erscheint mit dieser Ausgabe nach 15 Jahren als "JahrBuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung" zum ersten Mal mit neuem Titel und in neuer Gestalt. Sie umfasst neben dem "Schwerpunktthema", auf das ich mich hier konzentrieren will, noch weitere Artikel, Berichte von Konferenzen und zahlreiche Buchbesprechungen.
Das Schwerpunktthema wird eröffnet mit dem Aufsatz "Die Entstehung der italienischen revolutionären Linken: das Beispiel von 'Il Manifesto' und 'Lotta Continua'" von Antonio Lenzi. Der Autor beschreibt darin knapp die Organisationsdebatten in diesen beiden bedeutenden Formationen der "Neuen Linken" in Italien. Es wird deutlich, dass es in Italien, anders als etwa in Deutschland, einen engen Zusammenhang zwischen der 68er-Studentenbewegung und einer nicht-institutionalisierten Arbeiterbewegung gab. Dies wird aus der kurzen Skizze der Entwicklung des italienischen "68" ersichtlich. Auch die Abgrenzungen und Auseinandersetzungen mit der "Alten Linken" werden verständlich. Der Zusammenhang zum Schwerpunktthema ist dagegen nicht ganz so einleuchtend, denn weder stehen die Betriebsinterventionen der beiden Gruppen im Vordergrund, noch lassen sich diese umstandslos in den Operaismus einordnen.
Deutlicher wird der Zusammenhang dagegen im Aufsatz von Davide Serafino "Der Kampf gegen gesundheitsschädliche Arbeitsbedingungen am Beispiel von 'Chicago Bridge' in Sestri Ponente (Genua) 1968/69". Der Autor zeigt darin anhand eines lokalen Streiks das Zusammenkommen von Studierenden, insbesondere der medizinischen Fakultät, mit Arbeitern aus einem Industriebetrieb. Die vor allem im "Basiskomitee Medizin" zusammengeschlossenen Studierenden verwendeten für ihr Vorgehen die Methode der "militanten Untersuchung", die von den Operaisten entwickelt wurde. Dabei geht es nicht um eine akademische Erforschung der Arbeiter als Untersuchungsobjekte, vielmehr wird eine gemeinsame Produktion kollektiven Wissens von Intellektuellen, Aktivisten und Arbeitern angestrebt. [1] Gemeinsam mit den Arbeitern des Unternehmens untersuchten die studentischen Aktivisten die gesundheitlichen Bedingungen im Betrieb. Die Ergebnisse wurden dann während des Streiks in die Forderungen der Arbeiter aufgenommen. Auch die operaistischen Ideen ablehnend gegenüberstehenden italienischen Gewerkschaften griffen anschließend vermehrt auf diese Methoden der militanten Untersuchung mittels Fragebogen zurück. Die Theorien des Operaismus konnten in diesem Fall also unmittelbare gesellschaftliche Relevanz erlangen.
Auch die deutschen Spontis rezipierten die Theorie und Praxis des italienischen Operaismus. Diese wurden bisher in der geschichtswissenschaftlichen Betrachtung entweder weitgehend ignoriert oder als Teil des linksalternativen Milieus subsumiert. [2] Auf diese Forschungslücke macht Sebastian Kasper in seinem Aufsatz "Unter der Parole 'Kampf gegen die Arbeit!' Die Betriebsintervention der frühen Sponti-Bewegung" aufmerksam. Er zeigt, dass spontaneistische Gruppen in Deutschland, wie der "Revolutionäre Kampf" in Frankfurt, die "Proletarische Front" in Hamburg oder die "Arbeitersache" aus München sich auf die operaistische Vorstellung vom Massenarbeiter als kämpferischstes Element des Proletariats beriefen. In Italien identifizierten die Operaisten diesen Arbeitertyp in erster Linie in den aus Süditalien in die Großfabriken des Nordens migrierten Fabrikarbeitern. Folgerichtig gehen auch die deutschen Spontis in die Großfabriken, vor allem der Autoindustrie, um dort unter dem Motto "Untersuchung - Aktion - Organisation" in Kontakt mit den Massenarbeitern zu kommen. Zu dieser Zeit wurden diese in der Bundesrepublik vor allem durch die sogenannten Gastarbeiter repräsentiert. Dabei stützten sich die Sponti-Gruppen auf gute internationale Kontakte, in erster Linie natürlich nach Italien. Aber auch zu französischen, englischen und schweizerischen Organisationen bestand Kontakt. Höhepunkt der internationalen Zusammenarbeit war die "Konferenz betriebsinterventionistischer Gruppen der europäischen radikalen Linken in Paris im April 1973" zu der im Heft ein zeitgenössischer Bericht und ein Interview mit dem Historiker und damaligen Aktivisten der "Proletarischen Front" Karl-Heinz Roth abgedruckt ist. Roth betont darin, wie wichtig der Einfluss des italienischen Operaismus für die deutschen Spontis war. Damit konnten sie sich gegen die "anachronistischen und regressiven Tendenzen der maoistischen und K-Gruppen" abgrenzen und einen realistischeren Blick auf die bundesrepublikanische Klassenstruktur entwickeln.
Dass die Analysen der Spontigruppen durchaus richtig waren, zeigte sich an der "wilden" Streikwelle des Jahres 1973, als es in erster Linie die sogenannten Gastarbeiter waren, die für bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen kämpften. Gleich zwei Artikel des Schwerpunktes behandeln diese Streikwelle: zum einen Torsten Bewernitz in "'Terror der ausländischen Arbeiter'. Die 'wilden Streiks' im Rhein-Neckar-Gebiet im Mai 1973", und zum anderen Nelli Tügel in "Streik, Solidarität, Selbstermächtigung? Aushandlungsprozesse im Umfeld des wilden Streiks bei den Kölner Fordwerken 1973 und des Besetzungsstreiks bei Krupp in Duisburg-Rheinhausen 1987/88", die den bedeutendsten Streik dieses Kampfzyklus mit dem wohl prominentesten Arbeitskampf der 1980er-Jahre vergleicht. Mit den beiden Aufsätzen von Torsten Bewernitz und Nelli Tügel gelingt es, den theoretisch orientierten Artikel von Sebastian Kasper mit zwei empirischen Untersuchungen zu erweitern. Das Schwerpunktthema der Zeitschrift schafft es so auf ein bisher weitgehend vernachlässigtes Kapitel der neueren europäischen Geschichte aufmerksam zu machen. Die weitere Aufgabe wäre jetzt die angerissenen Themen tiefgehender zu untersuchen und historisch einzubetten. Der erste Schritt ist mit den vorgestellten Texten in "Arbeit - Bewegung - Geschichte" bereits getan.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Romano Alquati: Klassenanalyse als Klassenkampf. Arbeiteruntersuchungen bei Fiat und Olivetti. Herausgegeben und eingeleitet von Wolfgang Rieland, aus dem Italienischen von Lieselotte Biermann in Zusammenarbeit mit dem Herausgeber, Frankfurt am Main 1974.
[2] Vgl. Sven Reichardt: Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 2014.
Jens Benicke