Thomas Kirchner: Katholiken, Lutheraner und Reformierte in Aachen 1555-1618. Konfessionskulturen im Zusammenspiel (= Spätmittelalter, Humanismus, Reformation; 83), Tübingen: Mohr Siebeck 2015, XII + 507 S., ISBN 978-3-16-153634-2, EUR 94,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Ulrike Gleixner (Hg.): Religiöse Emotionspraktiken in Selbstzeugnissen. Autobiographisches Schreiben vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, Wolfenbüttel: Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel 2024
Dieter Berg: Oliver Cromwell. England und Europa im 17. Jahrhundert, Stuttgart: W. Kohlhammer 2019
Bent Jörgensen: Konfessionelle Selbst- und Fremdbezeichnungen. Zur Terminologie der Religionsparteien im 16. Jahrhundert, Berlin: Akademie Verlag 2014
Thomas Dorfner / Thomas Kirchner / Christine Roll (Hgg.): Berichten als kommunikative Herausforderung. Europäische Gesandtenberichte der Frühen Neuzeit in praxeologischer Perspektive, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2021
Thomas Kirchner: Der epische Held. Historienmalerei und Kunstpolitik im Frankreich des 17. Jahrhunderts, München: Wilhelm Fink 2001
Die sogenannten "Aachener Wirren" zählen zu den wichtigsten religionspolitischen Krisen des Heiligen Römischen Reiches vor dem Dreißigjährigen Krieg. Ihre Wahrnehmung und der Umgang der Reichsstände mit den Ereignissen zeigen - ähnlich wie der Fall Donauwörth oder die Jülicher Erbfolgefrage - die fortschreitende politische Desintegration des Reichsverbandes. Thomas Kirchners Studie über Aachen im Konfessionellen Zeitalter, die im Wintersemester 2013/14 an der RWTH Aachen als Dissertation angenommen wurde, belegt nun eindrucksvoll, dass die Betrachtung der "Wirren" in ihrer Beziehung zum Reichsganzen und mit Fokus auf die Krisenjahre 1611 bis 1614 nicht genügt, um den Ereignissen gerecht zu werden. Kirchner wählt stattdessen einen Zugriff, der das innerstädtische Leben seit dem Augsburger Religionsfrieden bewusst in die Analyse miteinbezieht. Dabei gelingt es ihm zugleich, die für die Erforschung des Konfessionellen Zeitalters zentrale Frage nach der Koexistenz dreier Konfessionsgruppen auch auf konzeptioneller Ebene voranzutreiben.
Kirchner konzentriert sich weder allein auf die Organisation des innerstädtischen Lebens, noch auf die Verhandlung Aachens auf und mit der Reichsebene. Die Studie folgt darum einer groben Zweiteilung. Während ein erster Teil die Verhandlungen um die sogenannte Causa Aquensis auf der Bühne der Stadt, der Region und schließlich des Reiches verfolgt, widmet sich ein zweiter Teil dem Zusammenleben der Konfessionsgruppen innerhalb der Stadt. Kirchner entwickelt diese überzeugende Konzeption einleitend aus den Besonderheiten der Forschungs- und der Quellenlage. Er zeigt, dass das wesentliche Desiderat in der Zusammenführung einer detailliert arbeitenden, aber überkommenen Interpretationen folgenden Lokalgeschichte mit einer konzeptionell innovativen Konfessionalisierungsgeschichte liegt, die Aachen als aussagekräftigen Fall bislang zu wenig beachtet hat. Es ist dieser Brückenschlag, den Kirchner anstrebt. Er tut dies, indem er zum einen konzeptionell an die Idee einer "interaktiven Konfessionalisierung" anknüpft und zum anderen gezielt die Wechselwirkungen zwischen Stadt und Reich in den Blick nimmt. Dieses Ziel ist umso bemerkenswerter, als die Quellenlage für eine solche Vorgehensweise nicht immer günstig ist, da mit dem Ratsarchiv die für städtisches Entscheidungshandeln wichtigsten Quellen verloren sind.
In einem chronologischen Zugriff entwickelt der erste Teil die Geschichte der Aachener Konfessionskonflikte seit den ersten reformierten Einflussnahmen im Jahr 1524. Dass vieles an dieser Erzählung bekannt ist, sollte nicht über die Stärken der Analyse hinwegtäuschen: Immer wieder ruft Kirchner die Interdependenz städtischen, reichsfürstlichen und kaiserlichen Handelns im Streit um die Konfession in Aachen in Erinnerung und kann so an vielen Stellen bisherige Ergebnisse der Forschung präzisieren, insbesondere was den Einfluss der Reichsstände auf die Konflikte angeht. So war es nicht zuletzt die Vernetzung der städtischen Interessensgruppen im Reichsgefüge, die den Akteuren bestimmte Handlungs- und Argumentationsweisen erst verfügbar machten. Auch eine mögliche Erklärung für die Eskalation des Religionsstreites seit 1611 greift auf dieser Ebene: So war es laut Kirchner die innerstädtische Verschärfung des Konfliktes im Zusammenspiel mit der Wahrnehmung Aachens als Konfliktherd im ohnehin instabilen Nordwesten des Reiches, die den Zwang zur konfessionspolitischen Entscheidung letztlich in fataler Weise verstärkt hat.
In einer stärker systematischen Vorgehensweise verhandelt der zweite Teil der Arbeit die Geschichte innerstädtischer konfessioneller Koexistenz, wobei der Schwerpunkt hier - mehr unausgesprochen als offen - nach dem Umbruch 1580 und vor der weiteren Eskalation 1598 liegt. Entsprechend geht es Kirchner darum, das funktionierende Zusammenspiel der Konfessionsgruppen im Spiegel städtischer und kirchlicher Organe zu zeigen. Aus der Not des zerstörten Ratsarchives macht Kirchner hier insofern eine Tugend, als er das städtische Zusammenleben an der Organisation und dem Handeln der Gaffeln untersucht, und damit eine innovative, weil indirekte Perspektive auf das Stadtregiment wirft. Ein weiterer Schwerpunkt gilt neben der städtischen und kirchlichen Justiz der Entwicklung der drei Konfessionskirchen in der Stadt. Fast durchweg kommt Kirchner zu dem Ergebnis, dass die "regelnde Durchdringung" (309) der Konfessionskirchen durch das Stadtregiment ebenso gering blieb, wie die Absicht der Kirchen, bestehende religiöse Differenzen zur konfessionspolitischen Eskalation zu treiben. Der Regelungsverzicht auf der einen, sowie der Bekehrungsverzicht auf der anderen Seite eröffneten damit letztlich den Raum für eine "interaktive Konfessionalisierung": Nicht gegeneinander, sondern im Kontakt und durch Aushandlung vollzog sich in Aachen eine Konfessionsbildung, die es lange Zeit erlaubte, konfessionelle Spannungen zu entschärfen. Alle untersuchten Institutionen trugen damit im Wesentlichen zu einer friedlichen Koexistenz durch religionspolitische Zurückhaltung bei. Dies fand allerdings letztlich um den Preis einer gesellschaftlichen "Offenheit und Beweglichkeit" (379) statt, die das friedliche Zusammenleben ebenso ermöglichten wie die letztendlich doch eintretende Eskalation.
Diese Eskalation - die "Wirren" der Jahre 1611 bis 1614 - bleibt trotz allem der Fluchtpunkt der Arbeit. Dies wird durch die Zweiteilung der Studie und die daraus resultierende Spannung verstärkt: Während der chronologische Teil mit der anschwellenden Verschärfung des Religionskonfliktes wie selbstverständlich auf dieses Ereignis hinläuft, wird die Möglichkeit eines solchen Ereignisses durch die systematische Betonung innerstädtischer friedlicher Koexistenz andersherum zumindest teilweise negiert. Was im einen Fall daher als nahezu zwangsläufig erscheint, sieht im anderen Fall beinahe unwahrscheinlich aus. Ein möglicher Kritikpunkt könnte folglich sein, dass Kirchner hier nicht noch einmal dezidiert Stellung bezieht oder die beiden Perspektiven erklärend zusammenführt: Welche Faktoren kippten das funktionierende Gleichgewicht in die Eskalation, obwohl gute Voraussetzungen dafür bestanden zu haben scheinen, dass dies nicht geschehen musste?
Was in dieser Perspektive auf den ersten Blick zu fehlen scheint, ist in anderem Blickwinkel allerdings gerade die große Stärke der Arbeit: Kirchner entzieht sich durchgehend einer allzu eindeutigen Dramaturgie. Weder ist er bereit, einer teleologischen Geschichtserzählung zu folgen, die das katholische Obsiegen nach 1616 als zwangsläufig erscheinen lässt, noch akzeptiert Kirchner die implizite Teleologie des Konfessionalisierungsparadigmas. In einer klugen Dekonstruktion konturiert er stattdessen die Ungereimtheiten in der Geschichte innerstädtischer konfessioneller Koexistenz Aachens und öffnet so wiederholt den Blick für Kontingenzen. Dazu gehört auch, dass die Eskalation nicht zwangsläufig war, aber sich am Ende doch ereignete. Kirchner schreibt damit ganz auf der argumentativen Linie der neuesten Konfessionalisierungsforschung: So wie sich die Formen konfessioneller Zugehörigkeit, die Motive konfessioneller Konfrontation und die Möglichkeiten interkonfessionellen Handelns jüngsten Erkenntnissen zufolge allzu großer Eindeutigkeiten und einem einfachen Blockdenken entziehen, so wenig lässt sich Kirchner auf eine dramaturgische Reduktion von Komplexität ein. Gerade das macht diese vielgestaltige Geschichte konfessioneller Koexistenz letztlich so facettenreich, überzeugend und anschlussfähig.
Hannes Ziegler