Nicolaj van der Meulen: Der parergonale Raum. Zum Verhältnis von Bild, Raum und Performanz in der spätbarocken Benediktinerabtei Zwiefalten, Wien: Böhlau 2016, 527 S., ISBN 978-3-205-79701-2, EUR 80,00
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Mit dem vorliegenden Werk, das hinsichtlich der Bildausstattung kaum Wünsche offenlässt, bringt der Basler Kunsthistoriker Nicolaj van der Meulen seine jahrelange Beschäftigung mit der Ausstattung der Stiftskirche von Zwiefalten (1739-1780) zu einem monumentalen Abschluss. Die mit "außen", "zwischen" und "innen" gekennzeichneten Hauptüberschriften unterstreichen die umfassende Behandlung aller Bestandteile der Klosterkirche, die unter Beteiligung von Johann Michael Fischer, Franz Joseph Spiegler, Meinrad van Au, Franz Sigrist, Johann Michael Feichtmayr und Johann Joseph Christian eines der letzten Großprojekte spätbarocker Inszenierung verkörpert. Methodisch greift van der Meulen insofern weiter aus, als ihm die Analyse Zwiefaltens auch dazu dient, Fragen der gesamtkörperlichen Erlebensdimension, die "ästhetische und religiöse Erfahrung als Einheit begreift" (11), zu beantworten. Der argumentative Weg des Autors entspricht dem sukzessiven Durchschreiten des Sakralraumes und hat wechselnde Ansichten mit immer neu entstehenden Bewegungsfiguren zur Folge, die ständig neu konfigurierte Sinneinheiten kreieren. Dieser Gesichtspunkt entspricht dem von der jüngeren Forschung in den Vordergrund gestellten Charakter des "peripatetischen" Sehens. [1] Der Autor präzisiert in einer methodischen Einleitung (21-27) seinen Zugang, indem er sich von ikonologischen, rhetorischen oder theatralischen Ansätzen absetzt und seine Fragestellung auf das Problem fokussiert, wie "aus den ritualisierten oder ästhetischen Körperbewegungen das Zusammenspiel von Architektur und Ausstattung" (21) rekonstruiert werden kann. In diesem Sinn operiert auch er mit den traditionellen Kategorien von Bildhaftigkeit und Raum, betrachtet letzteren aber nicht als ein durch die Architektur determiniertes "metrisches Ordnungssystem, sondern als eine im Bewegungsakt erst entstehende, veränderliche Konstellation." (21) In Bewegung ist bereits die Raumhülle selbst, die auf den durchgehenden Gegensatz von Ausfaltung (durch Deckenbilder) und Einfaltung (durch Ornamentdekorationen) angelegt ist (123).
Methodisch wird damit vom Autor das bildrhetorisch grundgelegte Aufeinanderbezogensein von Ausstattung und Betrachter aufgenommen und auf die Performanz des wandelnden Kirchenbesuchers sowie des Klerus (Kanzelpredigt, Prozession) konzentriert. Van der Meulen setzt sich besonders von den von Bernhard Rupprecht gebrauchten Begriffen des "Bildhaften" und "Malerischen" ab und ist bestrebt, wechselnde körperhafte Erfahrungen im Sakralraum zu beschreiben, die ihrerseits die Grundlage für die Wahrnehmung multipler visueller Verknüpfungen schaffen. Diese möglichen Verbindungen zwischen den Bildern "leiten Körper und Sinne von Ort zu Ort" (25). Dass diese extremen Potenzierungen des Möglichkeitssinns nicht nur ästhetische Qualitäten darstellen können, sondern auch außerordentliche Herausforderungen für den Konzeptersteller und Freskanten, versucht van der Meulen zu belegen, wobei allerdings ikonologische Gesichtspunkte nicht im Vordergrund stehen. Zur umfassenden Behandlung des historischen Gegenstandes Zwiefalten gehören auch historische Faktoren, die lange vor der Barockisierung der Abtei einsetzen: Hier ist besonders die traditionsreiche Marienverehrung zu nennen, die im berühmten Deckenfresko des Langhauses als Apotheose auf die Wirkmacht marianischer Gnadenbilder ihren malerischen Höhepunkt erreicht (148-204), allegorisch ausgeweitet in den dazugehörenden Zwickeln, die eine Empfehlung zur Anwendung der Sinne im Marienkult formulieren (211). Sicher wäre hier der Aspekt der Folgen der 1750 teuer erkauften Reichsfreiheit Zwiefaltens für die Ausstattung der Abtei im Kontext der reformfreudigen vorderösterreichischen Territorien und einer insgesamt kritischeren Stimmung gegenüber bilderreichen Sakraldekorationen einer näheren Betrachtung wert gewesen.
Seinem Paradigma der Berücksichtigung von Aspekten der Performanz verpflichtet, beginnt van der Meulen mit der Kirchenfassade und ihrer Interpretation als höchst transparente, membranartige Bewegungsfigur, deren Durchschreiten zugleich eine Zeiterfahrung impliziert, wobei ihre Gliederung in einer Art rhythmischer Wiederholung in der Anlage von Hochaltar und Chorgitter nachklingt. Die Frage nach der entsprechenden Abstimmung unter den Künstlern vorwegnehmend spricht van der Meulen von einem "kooperierenden Arbeitsprozess" (89), dessen hauptverantwortliche Koordination wohl Abt Benedikt Mauz zugefallen sein dürfte. Nach der Analyse der Vorhalle, der die Funktion eines vorbereitenden Präludiums zukommt, zugleich aber einen schnellen Gang in das Langhaus bremst, werden mit dem Kapitel über "Grottenbeichtstühle und andere Bekenntnisräume" (127-147) taktil und vegetabil gestaltete Nutzarchitekturen en miniature abgehandelt. Diese demonstrieren begehbare Installationen, die in ihrer formalen Disposition bereits auf die berühmte Kanzel vorausweisen. Besonders im Kapitel zum Langhausfresko Spieglers vermag van der Meulens Argumentation zu überzeugen, da sie konkret am Objekt die Konsequenzen der Dynamik von motorischer Bewegung (Gehen) und der Bewegung durch das Sehen für die Wahrnehmung der "Veränderlichkeit des Bildes" (168) offenlegt. Über das "Kanzelensemble" (231-251), welches das typologische Muster von Prophezeiung (Ezechiel) und Erfüllung (Predigerkanzel) mehrschichtig visualisiert, gelangt der Autor zu den bisher von der Forschung eher stiefmütterlich behandelten Seitenkapellen und Emporenfresken, die der Ausstattungsperiode zwischen 1765 und 1771 angehören und um Maria als Mutter des Benediktinerordens kreisen (252-291).
Das Kuppelfresko des Jahres 1749, das mit Maria als Königin aller Heiligen (299-322) ein barockes Standardthema zeigt, und das van der Meulen vor dem Hintergrund barocker Spiral- bzw. Ringordnungen abhandelt, leitet zu den abschließenden Kapiteln zu Querhaus (323-349) und Chorraum (350-389) über, die im Zeichen der ästhetischen Modellierung der Katakombenheiligen und der Mittlerschaft Marias für die Benediktiner stehen.
Van der Meulen bezieht die Eckpunkte seiner Argumentation vor allem aus der jüngeren Philosophie (Derrida, Heidegger, Deleuze). Nur selten spielen barocke Texte eine Rolle (290). In dieser Hinsicht ist auch der Titel des Werkes zu verstehen, der Derridas Ornamentbegriff "Parergon", der im Verständnis des Philosophen das Verhältnis zwischen dem Innen und Außen des Bildfeldes regelt, für den Barock fruchtbar zu machen versucht. In diesem Sinn sieht van der Meulen das Parergon als Figur des Übergangs im Sinne einer Dynamik ästhetischer Qualitäten (205). Dies fordert aber zugleich zur Frage nach den historischen Rezeptionsbedingungen und ihren möglichen quellenmäßigen Fundierungen heraus. Van der Meulen liefert einerseits bestechende und neue Einsichten in eine "parergonale Ästhetik" (396), die ganz von Ausweitung und Umlenkung des Visuellen lebt, andererseits müssen die sensiblen Schnittstellen zwischen dem Bildlichen als Schaltstelle unendlicher Operationen einerseits und theologischer Systematik andererseits nach wie vor offen bleiben.
Anmerkung:
[1] David Ganz / Stefan Neuner (Hgg.): Mobile Eyes. Peripatetisches Sehen in den Bildkulturen der Vormoderne (= eikones), München 2013. Vgl. hierzu die Rezension in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 1; URL: http://www.sehepunkte.de/2016/01/26152.html.
Werner Telesko