Rezension über:

Valeska Bopp-Filimonov: Erinnerungen an die "Nicht-Zeit". Das sozialistische Rumänien im biographisch-zeitgeschichtlichen Gedächtnis (1989-2007) (= Balkanologische Veröffentlichungen; Bd. 61), Wiesbaden: Harrassowitz 2014, 350 S., ISBN 978-3-447-10142-4, EUR 54,00
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Rezension von:
Peter Ulrich Weiß
Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam
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Peter Ulrich Weiß: Rezension von: Valeska Bopp-Filimonov: Erinnerungen an die "Nicht-Zeit". Das sozialistische Rumänien im biographisch-zeitgeschichtlichen Gedächtnis (1989-2007), Wiesbaden: Harrassowitz 2014, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 11 [15.11.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/11/28455.html


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Valeska Bopp-Filimonov: Erinnerungen an die "Nicht-Zeit"

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Während nach 1989 das Thema "Alltag und Herrschaft in der DDR" schnell zum Quotenrenner deutscher Sender und Verlage avancierte, blieb im postkommunistischen Rumänien das öffentliche Reden über das Alltagsleben im Realsozialismus lange Zeit die Ausnahme. Die Hypothek der Gewalt belastete das öffentliche Gedächtnis. Jahrzehntelanger GULag- und Geheimdienstterror, hunderttausendfacher Mord, extreme Mangelwirtschaft und eine blutige Revolution am Ende hatten bis 1989 ein gesellschaftliches Klima geschaffen, in dem Anpassung, Komplizenschaft und Schweigen zur selbstverständlichen Überlebensstrategie geworden war. Aktiver oder passiver Teil eines repressiven Systems gewesen zu sein, war daher ein Verhaltensmodus, über den nach dem Sturz Ceauşescus kaum jemand öffentlich zu reflektieren drängte. Zudem fehlten "moralische Instanzen", die sich vor 1989 auf Seiten der Opposition hervorgetan hatten und nun Rechenschaft einforderten. Das Ergebnis waren diskursive Ausblendungen und narrative Tabus.

Als Valeska Bopp-Filimonov 2005 die ersten Interviews für ihr Dissertationsprojekt zu führen begann, war die Präsidentschaft von Ion Iliescu, einem ehemaligen KP-Spitzenfunktionär, gerade erst zu Ende gegangen und mit ihr die postkommunistische Ära, die das Land nicht nur politisch, sondern auch erinnerungskulturell krisenhaft geprägt hatte. Insofern herrschten (und herrschen) in Rumänien andere Tempi und Modi der Vergangenheitsvergegenwärtigung, als sie beispielsweise im wiedervereinigten Deutschland vorzufinden sind. Dies fängt bereits bei der begrifflichen Annäherung an Bopp-Filimonovs Untersuchungsgegenstand an. So kursierte unter rumänischen Geisteswissenschaftlern vielfach die Vorstellung, die sozialistische Ära sei eine "Nicht-Zeit", die in westeuropäische Konzepte von Zeitlichkeit nicht einzupassen sei. Aber, wie die Autorin zu Recht konstatiert, auch eine "Nicht-Zeit" wird aller Verdrängungsleistung zum Trotz erinnert.

Die Erzähl- und Erinnerungsstränge aufzuspüren und freizulegen, macht sich das vorliegende Buch zur Aufgabe. Dazu hat Bopp-Filimonov 45 Interviews mit Angehörigen von sechzehn Familien aus Bukarest, Temeswar und Alexandria im Zeitraum 2005 bis 2007 geführt und diskursanalytisch ausgewertet. Formulierter Anspruch ist es, individuelle und öffentlich-mediale Erinnerung in ein "konstruktives Gespräch" zu bringen. Hintergrund ist der Befund, dass unter den Befragten die laufenden öffentlichen Diskurse beständig und sinnstiftend als argumentative Kulisse, Erläuterung oder Kontrastfolie in ihren Ausführungen mitwirkten. Dass Geschichtsmythen und politisch-kulturelle Stereotypen aus der nationalkommunistischen Phase Rumäniens und davor tiefe Spuren unter den landeseigenen Eliten hinterlassen hatten, haben zwar schon Lucian Boia und andere herausgearbeitet. Unbeantwortet blieb jedoch, was davon beim "Volk" hängen blieb bzw. inwieweit öffentliche Diskurse die individuelle Erinnerung überformten oder gar überschrieben.

Die Kapitel zwei bis vier der Arbeit befassen sich mit den öffentlichen Erinnerungsdiskursen nach 1989, mit lebensgeschichtlichen Erinnerungen sowie mit der Trias "Erinnerung - Geschichtsbewusstsein - Vergangenheitsdeutung" und ihren rumänischen Besonderheiten. Sie bilden den Kern der Untersuchung. Dass, wie überzeugend dargelegt, "Kommunismusdiskurs" und "Revolutionsdiskurs" vielfach zersplittert sind und Diskurspositionen unverbundenen nebeneinander existieren, deutet Bopp-Filimonov als Abbild einer Pluralisierungskrise, in der sich die rumänische Gesellschaft seit 1989 befindet. Im Mittelpunkt des 140 Seiten starken dritten Kapitels stehen dann die Lebensgeschichten und Selbstaussagen des zum Interviewzeitpunkt 66-jährigen, politisch in der Nationalen Christdemokratischen Bauernpartei (PNŢCD) aktiven Literaturwissenschaftlers Dan und des 69-jährigen Priesters Cornel, der nebenbei Romane schreibt. Deren individuelle Erinnerungen und biographische Zusammenhänge werden kenntnisreich historisiert und klug in die rumänische Politik- und Kommunismusgeschichte eingeordnet. Die Autorin sucht nach Prägungen und Handlungsoptionen während der Diktaturperiode (und danach). Dabei stößt sie immer wieder auch auf Widersprüchliches oder Unergründliches. So konvertiert Cornel Anfang der 1970er Jahre plötzlich vom hoffnungsvollen, regimetreuen Kader zum christlich-orthodoxen Priester. Seine Motivation dafür bleibt rätselhaft - auch im Nachhinein. War es tatsächliche spirituelle Vision, wie Cornel erklärt, oder steckten dahinter andere Kräfte, womöglich ein Auftrag? Neben den Hauptinterviewten kommen Kinder und Verwandte zu Wort. Das legt familiengedächtnishafte Erzählfäden und Narrative frei. Kontextualisiert und "gegengelesen" werden die biographischen Selbstaussagen vor allem politikgeschichtlich. Quellen aus dem Umfeld der Protagonisten, z.B. Instituts-, Partei- oder Geheimdienstakten, kommen hingegen nicht zur Auswertung. Inwiefern von den Befragten autobiographisch konstruiert, ausgelassen oder schlichtweg gelogen wurde, bleibt daher Spekulation.

Bopp-Filimonov entwickelt am lebensgeschichtlichen Einzelfall eine miteinander verwobene Politik-, Gesellschafts- und Familiengeschichte über 50 bis 60 Jahre hinweg. Dies ist - flüssig geschrieben - auch für Nicht-Kenner der rumänischen Geschichte eine interessante Verknüpfung. Da, wo diskursanalytische Quellen besonders umfangreich vorhanden waren, wie beispielsweise bei Dan, der sich, vom elterlichen Bukarester Elitenhaushalt beeinflusst, zeitlebens als wertkonservativer, von liberal-konservativen Welt- und Politikbildern geprägter politischer Intellektueller mit (innerer) Distanz zum Ceauşescu-Regime und hohen moralischen Ansprüchen verstand, erlaubt die Studie tiefgehende Einblicke in die Sinnwelten dieser Personenkreise und Milieus. Im Laufe der Lektüre erfährt man viel über die Qualitäten des methodischen Ansatzes, aber auch über seine Grenzen. Möglich wird dies durch die permanent eingestreuten (Selbst-)Beobachtungen des eigenen Tuns, mit denen Bopp-Filimonov ihre Arbeitsschritte gleichermaßen untermalt wie transparent macht. Dazu gehört auch die Erfahrung des unverhofften Scheiterns. Nachdem das Fallbeispiel "Familie 3" in letzter Minute ihre Autorisierung verweigert und die Mitwirkung komplett zurückzog, macht die Autorin aus der Not eine Tugend und räsoniert am Ende von Kapitel 3 allgemein über das gesellschaftliche Massenphänomen von Angst, Schweigen und Misstrauen in der postsozialistischen Zeit. Allerdings ist schwer zu ermessen, wie repräsentativ und spezifisch rumänisch dieses Erlebnis ist, da es sich offenbar um den einzigen Rückzieher in dieser Studie handelte.

Für Bopp-Filimonov und ihren Ansatz von Oral History ist Geschichte erzählte Erfahrung, und immer wieder tauchen Querverweise zu den Arbeiten von Aleida und Jan Assmann, Harald Welzer oder Dorothee Wierling auf. Inhaltlich schreibt sich die Arbeit in die Debatten über Diktaturvergangenheit und kommunikatives Gedächtnis ein. Zugleich knüpft sie auch an Diskussionen über familiäre Geschichtstradierung an, wie sie jüngst in Deutschland im Zuge der so genannten Dritten Generation Ost geführt wurden. Das Fortleben von Klischees, Legenden und Stereotypen in den rumänischen Erinnerungen bzw. Selbstreflexionen zeigt dabei auf berührende Weise an, wie nachhaltig auch die nationalkommunistische (Geschichts-)Propaganda auf Bevölkerung und Eliten einwirkte. Dies betrifft auch den latenten offiziellen Antisowjetismus seit den 1960er Jahren, in dessen Folge das kommunistische Regime und System nach 1989 erinnerungskulturell als sowjetisches Implantat externalisiert wird, obwohl keine Zweifel an genuin rumänischer Täter- und Trägerschaft bestehen.

In der Bilanz ihrer Studie hebt Bopp-Filimonov vor allem dreierlei hervor: individuelle Erinnerungen sind vielschichtig geprägt, von der Diktaturzeit existieren unterschiedliche Lesarten und "der Kommunismus" wird meist als leidvolle Erfahrung gedeutet. Diese - durchaus erwartbaren - Ergebnisse leuchten ein. Im Gegensatz zur aufwendigen Theoretisierung des eigenen Vorgehens und zur detailreichen Kontextualisierung hält sich die Autorin zurück, wenn es darum geht, die diversen Einzelerinnerungen in generalisierende Gesamtaussagen zu überführen. Dies mag möglicherweise auch an den Gesprächspartnern und deren Auswahl liegen, die nicht weiter begründet wird. Herkunft, Generation, Sozialmilieu oder Geschlecht werden zwar im jeweiligen Beispiel benannt, nicht jedoch als untersuchungsleitende bzw. thesenbildende Kategorien eingeführt. Die detaillierte Analyse in Kapitel 3 fokussiert auf einen sehr beschränkten, vornehmlich Bukarester Personenkreis. Daher verbleibt es etwas im Ungefähren, wen oder was die vorgestellten Biographien und Gedächtnisse eigentlich repräsentieren. Einzig Dan erschließt sich als "Typ". Doch das Buch funktioniert auch ohne Kategorienbildung. Wer mehr über die lebensgeschichtliche Komplexität erfahren und die narrative Widersprüchlichkeit der postsozialistischen Gesellschaft besser verstehen will, für den wird sich die Lektüre lohnen. Dazu sei auch auf den zwölfseitigen Anhang verwiesen. Er enthält Kurzbiographien der Befragten und Zusammenfassungen aller Interviews. Auf gleichermaßen komprimierte wie kaleidoskopartige Weise wird hier die zuvor ausführlich am Einzelfall beschriebene Vielfalt der Erinnerungen bzw. Erinnerungsmuster der unterschiedlichen Generationen und Personengruppen plastisch und empirisch dicht. Sogar gängige Vorstellungen geraten ins Wanken: Viele der Gesprächspartner, so erfährt der erstaunte Leser, hatten vor 1989 keine persönlichen Erfahrungen mit Terror oder Mangel gemacht.

Peter Ulrich Weiß