Veronica Bucciantini: Studio su Nearco di Creta. Dalla descrizione geografica alla narrazione storica (= Studi di Storia greca e romana; 11), Alessandria: Edizioni dell'Orso 2015, 251 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-88-6274-643-4, EUR 18,00
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Der Fahrtbericht des Nearchos aus Kreta, des Nauarchos (Admirals) Alexanders des Großen und Leiters der großen Entdeckungsfahrt auf den indischen Strömen und an den Küsten des indischen und persischen Küstengebietes vom Indus bis zum Euphrat 326-324 v. Chr. hat als eine historiographische, geographische und ethnographische Schlüsselquelle des beginnenden Hellenismus schon seit der Antike (Strabon, Arrian) großes Interesse auf sich gezogen und wird auch in der jüngeren Forschung weiterhin intensiv diskutiert. [1] Veronica Bucciantini, die bereits mehrere Vorstudien zur Küstenfahrt des Nearchos und der Periplous-Tradition publiziert hat und eine ausgewiesene Spezialistin für die antike Geographie ist, legt nun als eine Summe und Vertiefung bisheriger Überlegungen seit ihrer Dissertation (Florenz 2006) diese zu besprechende Monographie vor.
Bucciantini beginnt mit einem Kapitel zum Leben des Nearchos (9-28). Wie bei den meisten der "historiens compagnons d'Alexandre" (Paul Pédech 1984) ist eine annähernd vollständige Rekonstruktion der Biographie auch des Nearchos aufgrund der fragmentarischen Überlieferungslage nicht mehr möglich. Bucciantini erörtert kritisch alle relevanten Testimonien. Die wichtige delphische Inschrift mit Ehrungen für Nearchos, Sohn des Androtimos den Kreter, datiert sie wohl zu Recht auf 336-334 v. Chr. (14-17) gegen Versuche, die Inschrift erst nach Alexanders Tod und der Veröffentlichung des Werkes des Nearchos anzusetzen. Bucciantini hält es für wahrscheinlich, dass Nearchos erst nach der Schlacht von Gaza 312 v. Chr. verstarb. Die genauen Lebensdaten bleiben aber unbekannt.
Kap. 2 (29-85) diskutiert ausführlich die Unsicherheit über den ursprünglichen Werktitel des Nearchos: Periplous, Paraplous oder Anaplous? Bereits hier betont Bucciantini ihre Hauptthese, dass Nearchos zwar das äußere Gerüst der alten Periploustradition verwendete, aber durch Exkurse und zahlreiche Zusatzinformationen über den Raum und die Dauer der eigentlichen Küstenfahrt weit hinausgriff. Der vollständige Bericht des Nearchos könnte sehr wohl bereits ein Vorläufer der erhaltenen späteren Indike Arrians gewesen sein. Den Hauptteil von Kap. 2 (36-72) nehmen detaillierte Kommentare zum Verlauf der Fluss- und Küstenfahrt ein. Arrian Ind. 21,7-42,10 geht bekanntlich im Wesentlichen auf Nearchos zurück. Die präzise Lokalisierung vieler genannter Toponyme und eine Identifikation mit heutigen Orten erweisen sich aber oft als schwierig oder gar nicht mehr möglich. Nearchos' Fahrtbericht war bezüglich der Distanzangaben sehr detailliert. Bei den erwähnten Distanzen (72-77) finden sich insgesamt (mit Ausnahme der Küste Karmaniens) nur geringe Diskrepanzen zwischen den zusammenfassenden Angaben (z.B. zur Küste der Araber) und den addierten einzelnen Teilstrecken. Die außerordentlich lange Liste von 35 Trierarchen des Flottenunternehmens bei Arrian aus Nearchos (77-85), in welcher der Kreter sowohl unter den Trierarchen als auch später ausdrücklich als Nauarchos erwähnt ist, soll beim Leser Erinnerungen an den homerischen 'Schiffskatalog' in der Ilias evozieren. Bucciantini findet in der thematischen Breite der auf Nearchos zurückgehenden Notizen starke Anhaltspunkte dafür "pensare all'opera nearchea come a una Alexandergeschichte, che comprendeva perciò anche parti non strettamente correlate al racconto della navigazione oceanica" (85). Falls man dieser attraktiven These Bucciantinis folgt, wäre zu fragen, ob nicht vielleicht auch noch andere frühhellenistische maritime Fahrtberichte im Auftrag der Seleukiden und Ptolemäer u.a. auf den Kaspischen oder dem Roten Meer weit über ältere traditionelle Periplous-Werke hinausgreifen und höhere, 'historiographische' Ansprüche erheben wollten.
Kap. 3 betrachtet Nearchos als 'wissenschaftlichen Beobachter' (87-110). Die außerordentliche Breite seiner wissenschaftlichen Interessen an astronomischen Problemen, den Windverhältnissen und der Hydrographie Indiens, an Fauna und Flora sowie ethnographisch-historischen Standardthemen griechischer Autoren über Indien (Opferbräuche, Kleidung, Brahmanen und andere Weise) erstaunt. [2] Nearchos scheint hohen Wert darauf gelegt zu haben, persönliche Begegnungen mit Alexander hervorzuheben (Kap. 4, 111-123), vielleicht um davon abzulenken, dass er erst ab Ende 326 zu den höchsten Machtträgern des Königs rechnete.
Im Kap. 5 (125-137) argumentiert Bucciantini gegen Felix Jacobys einflussreiche Feststellung im Kommentar zu FGrHist 133 (445), Nearchos habe "jedenfalls keine vollständige Alexandergeschichte" geschrieben. Bucciantini zufolge war im Gegenteil Nearchos' Werk weit mehr als ein elementarer Periplous, sondern im Ansatz bereits eine "Alexandergeschichte" (132-133). Bucciantini verweist auf Nearchos' literarische Ansprüche durch Homer-Imitation (Trierarchenkatalog, Spiel mit Nostos-Traditionen) sowie seine Berichte über Orte, Aussprüche Alexanders und Ereignisse ohne räumlichen oder zeitlichen Zusammenhang mit dem Fahrtverlauf selbst, bei denen Nearchos nicht zugegen gewesen sein konnte, z.B. die Selbsttötung des Kalanos oder den "Strapazenbericht" (Hermann Strasburger) des Landheerzuges durch die gedrosische Wüste.
Im Kap. 6 (139-153) erörtert Bucciantini die Frage nach Quellen und Vorbildern des Nearchos in seinem Werk. Hier scheint es mir besonders aufschlussreich für Nearchos als Autor, dass gerade die thematisch naheliegenden Vorgängerwerke des Skylax und des Ktesias über Indien - soweit wir es aufgrund der fragmentarischen Überlieferungslage noch erkennen können - durch Nearchos nicht offen rezipiert wurden. Inwieweit Nearchos bereits Material aus den Werken anderer Teilnehmer des Alexanderzuges verwertet haben könnte (z.B. Onesikritos), bleibt eine von den abweichenden Annahmen über die Veröffentlichungsdaten aller dieser nur fragmentarisch überlieferten Werke abhängige, schwer entscheidbare Frage (vgl. 145-147). Unsere Meinung über Nearchos' Werk stützt sich also insbesondere auf Arrians Indike (zusammenfassend B. 147-152), der dem Nearchos als einer Hauptquelle folgt. Dabei hat Arrian offenbar viele Detailinformationen und Exkurse des Nearchosberichtes weggelassen. Dieser entstand in drei Produktionsstadien, zuerst als knappes Schiffstagebuch, dann als Bericht an Alexander 324 v. Chr. und schließlich als ein ausgefeiltes literarisches Werk mit einer thematischen, räumlichen und zeitlichen Spannweite, die über die heute noch erhaltenen Nearchosfragmente weit hinausgegangen sein dürfte. Bucciantinis Monographie stellt zusammenfassend gesagt einen wichtigen Beitrag zur Nearchos-Forschung dar. Darüber hinaus sei sie allen an frühhellenistischen Historiographie, Ethnographie und Geographie interessierte Lesern sehr empfohlen. [3]
Anmerkungen:
[1] Für einen Einstieg in die Diskussion siehe z.B. Michael Whitbys neue Übersetzung und Kommentare der Fragmente von Nearchos FGrHist 133 im Rahmen von Brill's New Jacoby aus dem Jahre 2012, oder die Beiträge in der Zeitschrift Geographia Antiqua XXII, 2013.
[2] Vgl. zu solchen Standardthemen u.a. Johannes Engels, Indika (Anonymoi) - Sources on Ancient India BNJ 721, Brill's New Jacoby, 2014.
[3] Hilfreich für den Leser sind der Abdruck des griechischen Textes von Arrian Ind. 17,6-42,10 (157-176, nach Roos-Wirth), zahlreiche Karten und Illustrationen (177-202), ein zuverlässiger Index der antiken Quellenstellen, von Namen, Orten sowie Begriffen (205-222) und eine erfreulich aktuelle Bibliographie (223-247).
Johannes Engels