Tünde Beatrix Karnitscher : Der vergessene Spiritualist Johann Theodor von Tschesch (1595-1649). Untersuchungen und Spurensicherung zu Leben und Werk eines religiösen Nonkonformisten (= Arbeiten zur Geschichte des Pietismus; Bd. 60), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015, 389 S., 1 Falttafel, ISBN 978-3-525-55843-0, EUR 99,99
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Die vorliegende Untersuchung ging aus einer literaturwissenschaftlichen Dissertation des Jahres 2012 an den Universitäten von München und Szeged hervor. Ihr Gegenstand ist der schlesische Spiritualist Johann Theodor von Tschesch (1595-1649), der als Brückenfigur zwischen Jacob Böhme und dem frühen Pietismus gilt. Das Buch bietet eine Kombination aus Biografie und Werkanalyse - unter Berücksichtigung des literarischen Œuvres von Tschesch sowie einiger ihm zugeschriebener Werke und auch unter Einbeziehung der eher spärlichen archivalischen Überlieferung zur Person. Literaturgeschichtlich würde man Tschesch aufgrund seines Schaffens und seines Freundeskreises an einer Schnittstelle zwischen schlesischem Späthumanismus und Barock einordnen, kirchen- und theologiegeschichtlich zwischen schlesisch-pfälzischer Irenik und einem dogmenkritischen, "suprakonfessionellen" (175, pass.) Spiritualismus, historisch schließlich als mitteleuropäischen Zeitgenossen von konfessionspolitischen Wirren und Dreißigjährigem Krieg. Während Tschesch gerade in der Forschung zum außerkirchlichen bzw. 'radikalen' Pietismus durchaus kein Unbekannter ist - Gottfried Arnold hat sein Werk rezipiert und popularisiert -, so unternimmt die Untersuchung den Versuch, Tschesch "insbesondere aus philologischem Blickwinkel zu begegnen", sein gelehrt-spiritualistisches Umfeld zu rekonstruieren und seine Schriften in die religiösen und intellektuellen Traditionen der Zeit einzuordnen (24f.).
Diese "Spurensuche" (24) orientiert sich weitgehend an Tscheschs Biografie, die - durchwoben mit eher systematischen bzw. werkgeschichtlichen Abschnitten - den größten Teil der Untersuchung ausmacht. Geboren nahe Grottkau, genoss der junge Adelige eine Ausbildung an der Schweidnitzer Lateinschule, bevor er seine juristischen Studien in Marburg und Heidelberg absolvierte und kurzzeitig in die Dienste des 'Winterkönigs', Kurfürst Friedrich V. von der Pfalz, trat. Die meiste Zeit seines Lebens verbrachte er als Geheimer Rat an den Höfen von Liegnitz und Brieg, bis er unter dem Eindruck der Kriegswirren in den Vierzigerjahren des 17. Jahrhunderts Schlesien verließ, sich an mehreren Orten Europas (darunter insbesondere in den Niederlanden) aufhielt, in Philipp von Zesens "Deutschgesinnte Genossenschaft" aufgenommen wurde und schließlich 1649 verarmt im königlich-preußischen Elbing starb.
Tschesch profitierte lebenslang von engen schlesisch-landsmannschaftlichen Kontakten (darunter zu Abraham von Franckenberg), er trat als Autor zahlreicher Epigramme in Erscheinung (die von der Autorin biografisch bzw. als Selbstzeugnisse ausgewertet werden) und er verfasste Traktate unterschiedlichen Umfangs, von denen insbesondere die Verfasserschaft der anonym erschienenen "Treuhertzigen Erinnerung" ausführlich diskutiert und Tschesch als mutmaßlichem (Mit-) Verfasser zugeschrieben wird (97-120) - was bislang auch schon vermutet worden war. Im Lauf seines Lebens entwickelte sich Tschesch demnach immer stärker vom irenisch beeinflussten Reformierten zum dogmenkritischen Spiritualisten, dessen individualistische Frömmigkeit auf Ideen von Nachfolge Christi und Wiedergeburt beruhten (148, pass.). Tschesch rezipierte spätmittelalterliche Mystiker ebenso wie Jakob Böhme, letzteren allerdings - wie die Verfasserin verdeutlicht - eher in einer späteren Lebensphase und durchaus selektiv: insbesondere im Hinblick auf eine konfessions- und religionsunabhängige Spiritualität, die ausgewählte Fromme "alle[r] Völker und Menschen" (197) einschließe. Tscheschs Briefkontakte legen nahe, dass ihm eine lockere, urkirchlich motivierte Vergemeinschaftung dieser Frommen am Herzen lag. Im Zentrum seiner Frömmigkeit stand demnach eine spezifische "Suprakonfessionalität", die die Verfasserin als charakteristisch für sein Wirken ansieht (190-198).
Der Protagonist der Studie stellt sich insgesamt facettenreicher dar denn nur als Böhme-Apologet bzw. als Vorläufer des Pietismus. Trotz seiner langjährigen Anstellung als herzoglicher Amtsträger propagierte er insbesondere in seiner zweiten Lebenshälfte eine Abkehr von der Welt und von kirchlich-konfessionellen Dogmen zugunsten individueller Gotteserkenntnis. Seine Lektüren scheinen durchaus vielfältig gewesen zu sein (vgl. 259-291; allerdings sind insgesamt nur sieben Bücher überliefert, die sich sicher auf Tscheschs Bibliothek zurückführen lassen, 267), und als Autor und Leser war er Teil einer schlesischen Gelehrtenkultur: skeptisch gegenüber paracelsistisch-alchemistischem Gedankengut ebenso wie gegenüber prophetischen Separatisten vom Schlage Gifftheils.
Die Untersuchung bietet einen Überblick zu Leben und Werk eines Denkers, über den jenseits seines überschaubaren literarischen Schaffens und trotz der Einbeziehung archivalischen Quellenmaterials nur wenige Informationen vorliegen. Vor diesem Hintergrund bleiben große Teile dieser insgesamt zu ausführlich und teils redundant geratenen Arbeit vage und werden von konjunktivischen Formulierungen dominiert. Wünschenswert wäre eine stärkere Kontextualisierung des Protagonisten innerhalb der protestantischen Barockkultur Schlesiens gewesen, eine genauere kirchen- und theologiegeschichtliche Einordnung vor dem Hintergrund der Entwicklungen zu Tscheschs Zeit, vor allem aber eine Berücksichtigung des historischen Kontexts insbesondere des schlesischen Raums unter den Bedingungen des Dreißigjährigen Krieges (eine Ausnahme: 206). Die Arbeit ist mit mehreren genealogischen, tabellarischen und chronologischen Anhängen und einem Personenregister ausgestattet. Künftiger Forschung zum schlesischen Spiritualismus wird sie zweifellos eine hilfreiche Grundlage bieten.
Alexander Schunka