Sébastien Moureau: Le De anima alchimique du pseudo-Avicenne. Vol. 1. Étude. Vol. 2. Édition critique er traduction annotée (= Micrologus Library; 76), Firenze: SISMEL. Edizioni del Galluzzo 2016, 2 Bde., XVII + 1422 S., ISBN 978-88-8450-716-7, EUR 145,00
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Jacqueline M. Burek: Literary Variety and the Writing of History in Britain's Long Twelfth Century, Woodbridge / Rochester, NY: Boydell & Brewer 2023
Rebecca Giselbrecht / Sabine Scheuter (Hgg.): "Hör nicht auf zu singen". Zeuginnen der Schweizer Reformation, Zürich: TVZ 2016
Bruno Laurioux / Agostino Paravicini Bagliani / Eva Pibiri: Le Banquet. Manger, boire et parler ensemble (XIIe-XVIIe siècles), Firenze: SISMEL. Edizioni del Galluzzo 2018
In dieser mächtigen, zweibändigen Arbeit, die auf einer an der Universität Leuven/Louvain eingereichten Dissertation beruht, bietet Sébastien Moureau zunächst eine umfangreiche Einführung zum alchemistischen Traktat De anima, der zwar Avicenna zugeschrieben wurde, tatsächlich aber von einem anderen Verfasser stammt, weswegen heute von Pseudo-Avicenna als dem Autor gesprochen wird. Der erste Band besteht aus kritischen Reflexionen zum einen über Avicenna und seine Einstellung zur Alchemie, zum anderen über das Werk selbst und seine wesentlichen Teile.
Der zweite Band bietet dann eine kritische Edition von De anima, die auf der Tradition einer Gruppe von vier Handschriften (L, C, F und V) beruht, die die größte Menge an Gemeinsamkeiten aufweist. Moureau greift somit auf die lateinische Übersetzung eines arabischen Textes zurück, die aber oftmals schwer verständlich oder sogar fehlerhaft ist. Der Schreiber könnte sogar des Lateins unkundig gewesen sein, aber Moureau hat diese Fehler nun nicht ausgemerzt, sondern in der Edition beibehalten, dafür aber in den Fußnoten kommentiert, abgesehen von ganz gravierenden Fällen, bei denen er direkt eingreifen musste. Er bleibt demgemäß so nahe wie möglich an der Handschriften-Gruppe L, C, F und V, normalisiert aber z.B. Standardbegriffe der Alchimie und löst die Abkürzungen auf, was das Verständnis erleichtert.
Seine größte Leistung besteht aber darin, zum einen gründlich in Avicennas Werk und in die Geschichte der alchemistischen Literatur einzuführen, d.h. also auch diesen Traktat adäquat zu kontextualisieren, zum anderen der lateinischen Edition auf der rechten Seite eine französische Übersetzung auf der linken Seite hinzuzufügen. Darüber hinaus quillt der erste Band nur so über vor zusätzlichen Informationen, Ergänzungen, Hinweisen, Erklärungen etc., die insgesamt einen äußerst wertvollen Beitrag zur Geschichte der Alchemie im Mittelalter leisten. Dazu gehören vor allem die folgenden Aspekte: Avicennas Werk, alchemistische Traktate im Mittelalter, eine Einführung zu De anima, die zugrundeliegenden Quellen, der Vergleich der vorliegenden Handschriften mit sicherlich vorhandenen Vorstufen, die aber verloren gegangen sind, die zitierten Autoritäten, die vorhandenen Handschriften und die Rezeptionsgeschichte. Daran schließt sich eine erstaunliche Fülle von Indices an, die die folgenden Bereiche betreffen: Allgemeines, Personen, Werktitel, Ortsnamen, andalusische Begriffe, arabische Wörter, spanische Wörter, griechische Wörter, lateinische Begriffe, die Handschriften und die Incipits. Wichtig ist außerdem, wie überzeugend Moureau über die alchemistische Konzeption in De anima nachdenkt, bei der es sich eigentlich nüchtern betrachtet um eine solide Vorstufe zur modernen Chemie handelt.
Die Edition stützt sich, wie schon gesagt, auf die Gruppe von L, C, F und V, und Moureau liefert zusätzlich Querverweise auf den Erstdruck von Mino Celsi von 1572, insgesamt aber wird nicht recht ersichtlich, wie die Ausgabe selbst gestaltet wurde. Moureau selbst sagt nur: "une édition critique reconstructive du texte de cette famille" (I, 224). Eventuell hat er dies an anderer Stelle genauer erläutert, die mir entgangen sein mag, aber wirft man einen Blick in den zweiten Band, vermag ich nur festzustellen, dass er stets Alternativformulierungen in C, F, L und V bietet, dazu auch noch in H, O und in Celsi, was insgesamt ein eher ungutes Gefühl vermittelt. Hat er vielleicht den Text schlicht neu konstruiert? Ein Leithandschriftenprinzip ist jedenfalls nicht vorgesehen. Es handelt sich offensichtlich um ein Amalgamat, was eigentlich den heutigen textkritischen Anforderungen nicht mehr entspricht.
Abgesehen davon hat Moureau eine enorme Arbeit geleistet und sehr beeindruckend die Textgeschichte von De anima in den Griff bekommen, was man ihm hoch anrechnen muss. Dazu kennt er sich offensichtlich auch im Arabischen aus, wie die vielen Zitate und Hinweise deutlich machen, besonders wenn er spezifische alchemistische u.a. Begriff im Glossar erläutert. Mit etwas Verwunderung liest man im Vorwort die Bemerkung, dass nur der Eingriff der göttlichen Vorhersehung diese Arbeit möglich gemacht habe, was für eine wissenschaftliche Untersuchung dann doch etwas ungewöhnlich wirkt.
Albrecht Classen