Rezension über:

Patricia Dee Leighten: The Liberation of Painting. Modernism and Anarchism in Avant-Guerre Paris, Chicago: University of Chicago Press 2013, XVIII + 226 S., ISBN 978-0-226-47138-9, GBP 35,00
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Rezension von:
Kristin Bartels
Leipzig
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Kristin Bartels: Rezension von: Patricia Dee Leighten: The Liberation of Painting. Modernism and Anarchism in Avant-Guerre Paris, Chicago: University of Chicago Press 2013, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 1 [15.01.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/01/24832.html


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Patricia Dee Leighten: The Liberation of Painting

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Die Wechselbeziehungen zwischen Kunst und Politik sowie die Frage nach einer Politics of Form sind in den letzten Jahren vermehrt in den Fokus von Kunsthistorikern und Kunsttheoretikern gerückt. [1] Der Einfluss politischer Strömungen auf die Kunst der Klassischen Moderne wurde jedoch in der Forschung bisher kaum beachtet - das Credo L'art Pour L'art schien eine Politisierung der Kunst in jener Zeit auszuschließen. Die amerikanische Kunsthistorikerin Patricia Leighten forscht seit den 1980ern zu diesem Thema und hat zahlreiche Publikationen und Aufsätze über die Verbindungen zwischen Kubismus und anarchistischen Strömungen in Paris um 1900 vorgelegt. [2] 2013 erschien ihr Buch The Liberation of Painting: Modernism and Anarchism in Avant-Guerre Paris, in dem sie ihre Forschungsergebnisse der letzten Jahrzehnte bündelt. Ihr Untersuchungszeitraum erstreckt sich dabei von 1880 bis zum Ausbruch des 1. Weltkrieges und umfasst unterschiedliche Kunstströmungen wie die akademische Salonmalerei, Fauvismus, Orphismus oder Kubismus, sowie Karikaturen in Zeitschriften und Collagen.

Mit dem Anliegen, ein Korrektiv der Kunstgeschichtsschreibung der Moderne vorzunehmen (3), formuliert Leighten die Kernthese, dass insbesondere der Anarchismus beziehungsweise das von anarchistischen Inhalten geprägte politisierte Umfeld der Künstler um 1900 dazu beigetragen habe, spezifische Formensprachen und Strategien der französischen Klassischen Moderne zu entwickeln. Für ihre Analyse, die sowohl subjektbezogene Faktoren wie Biografie und soziale Netzwerke der Künstler als auch kulturhistorische und gesellschaftspolitische Rahmenbedingungen einbezieht, konzentriert sich Leighten auf "key modernists" wie Kees Van Dongen, Juan Gris, František Kupka, Pablo Picasso und Maurice de Vlaminck. Diese Künstler "viewed anarchist politics as inherent in the idea of their avant-garde art and created new formal languages expressive of a desire to revolutionary changes in both art and society" (2).

Ihre Einleitung beginnt Leighten zunächst mit einer Einführung in die anarchistische Bewegung mit ihren bedeutendsten Vordenkern Pierre-Joseph Proudhon, Mikhail Bakunin und Petr Kropotkin, deren Theorien über die soziale und moralische Verantwortung von Kunst zahlreiche Intellektuelle dieser Zeit inspirierten (4-8). Darauf aufbauend und theoretisch untermauert von Mikhail Bakhtins Konzept der Heteroglossie veranschaulicht sie in ihrem ersten Kapitel Languages of Art and Politics: Salon Painting, Caricature, Modernism (17-56) die diversen künstlerischen Ausdrucksformen des Politischen - sei es durch die Wahl des Themas, Mediums oder Stils als auch durch alternative Präsentationsmöglichkeiten abseits des offiziellen Salons, womit auch eine Entscheidung für ein anderes Publikum einherging (12).

Einen Schwerpunkt in diesem Kapitel bildet dabei die satirische Druckgrafik, deren Bedeutung für die französische Kunst um 1900 häufig mit dem Argument ausgeblendet wurde, ihre Anfertigung diene lediglich dem Gelderwerb. Tatsächlich aber spiegelten die Karikaturen - beispielsweise von Kees Van Dongen - politische Überzeugungen und dienten zugleich als künstlerisches Experimentierfeld (40-48). Leighten zeichnet hier durch zahlreiche Bild- und Textquellen ein facettenreiches Bild der Printkultur in Paris um 1900, an der auch zahlreiche moderne Künstler mitwirkten. Dabei ist ihre These, dass die satirische Druckgrafik durch "expressive freedom, bold simplifications, violent deformations, and strikingly abstract compositions" (31) die moderne Malerei beeinflusste und den Künstlern somit die formalen Mittel in die Hand gab, mit denen sie in der Lage waren "to transform painting into a weapon of avant-gardism" (48), zwar einleuchtend, wird aber im Text nicht durch überzeugende Bildanalysen- und vergleiche belegt.

Das folgende Kapitel The White Peril (57-84) widmet sich einer ausführlichen Einführung in die französische Kolonialgeschichte und insbesondere der zeitgenössischen Afrika- und Primitivismusrezeption. Die zahlreichen Skandale um Kolonialverbrechen dieser Zeit, aber auch das romantisch verklärte Bild vom Schwarzafrikaner als edlen Wilden oder als primitive Bestie prägten - so Leighten - auch maßgeblich Picassos Malerei. Aufbauend auf ihrer Analyse der Primitivismusrezeption und ihren Überlegungen zum Werk Picassos untersucht Leighten in dem Kapitel A Rationale of Ugliness (85-110) die zeitgenössische Rezeption des Kubismus. Anhand von Texten wie Jean Metzingers Du Cubisme (1912), Gelett Burgess' The Wild Men of Paris (1910) oder André Salmons La Jeune Peinture Française (1912) legt sie dar, inwieweit die Formensprache des Kubismus von zeitgenössischen Kunstkritikern mit afrikanischem Primitivismus, der häufig im Sinne eines anti-kolonialistischen oder europakritischen Verständnisses politisch aufgeladen war, assoziiert wurde (94).

In den letzten zwei Kapiteln konzentriert sich die Autorin auf Fallbeispiele einzelner Künstler, um die Bedeutung der satirischen Grafik für die Moderne aufzuzeigen. Das Kapitel Politics and Counterpolitics of Collage (111-144) widmet sich einem Vergleich von Collagen Picassos und Juan Gris'. Das abschließende Kapitel Abstracting Anarchism (145-176) handelt von František Kupka und seinen zahlreichen Verflechtungen mit der anarchistischen Bewegung. Anhand einer Analyse seiner in anarchistischen Magazinen veröffentlichten Karikaturen sowie seiner in dem Werk La Création dans les arts plastiques (1912) zusammengefassten, kunsttheoretischen Überzeugungen spannt Leighten einen Bogen zu seiner abstrakten Malerei, die sie als eine Art anarchistisches Manifest interpretiert (175-176).

Dieses letzte Kapitel zu Leben und Werk von František Kupka ist aufgrund der überzeugenden Quellenlage das argumentativ stärkste des Buches. Generell fehlt es ihrer Untersuchung jedoch an einer methodischen Richtlinie und stringenten Argumentationsstruktur, die ihre zuweilen sehr spannenden Thesen überzeugend untermauern könnten. So gelingt es ihr nicht, den Einfluss des Anarchismus und der Karikatur auf die Formensprache der Moderne durch präzise Bildbetrachtungen und Bildvergleiche anschaulich darzulegen. Stattdessen besticht Leightens Publikation durch zahlreiche kulturhistorische und kunsttheoretische Exkurse sowie durch umfangreiche Analysen der Netzwerke der einzelnen Künstler, die die zahlreichen Verflechtungen der "key modernists" mit der anarchistischen Bewegung offenbaren. Ihrem im Fazit (177-180) formulierten Anliegen, dass es für ein Verständnis der Rezeption der Moderne bedeutend sei, "to recognize the terms of political debate and the importance of visual culture and the visual arts to the debate" (177) wird hier Rechnung getragen und das trägt sicherlich dazu bei, die Sichtweisen auf Kunst und Künstler der Moderne um bedeutende Aspekte der historischen und kulturellen Zeitgenossenschaft zu ergänzen.


Anmerkungen:

[1] Siehe hierzu beispielsweise Leonhard Emmerling / Ines Kleesattel (Hgg.): Politik der Kunst. Über Möglichkeiten, das Ästhetische politisch zu denken, Bielefeld 2016.

[2] Siehe u.a. Patricia Leighten: Re-Ordering the Universe: Picasso and Anarchism, Princeton 1989; Dies.: Réveil anarchiste: Salon Painting, Political Satire, Modernist Art, in: Modernism/modernity 2 (April 1995), 17-47; Dies.: Colonialism, l'art nègre, and Les Demoiselles d'Avignon, in: Picasso's "Les Demoiselles d'Avignon", hg. von Christopher Green, Cambridge 2001, 77-103.

Kristin Bartels