Ingrid Fricke: Franz Künstler. Eine politische Biographie (= Berliner Beiträge zur Ideen- und Zeitgeschichte; Bd. 1), Berlin: Verlag für Berlin-Brandenburg 2016, 480 S., ISBN 978-3-945256-46-6, EUR 29,99
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Wie schreibt man die politische Biografie einer Person, die nur wenige persönliche Zeugnisse hinterlassen hat und gemessen an ihren Funktionen eher in der zweiten Reihe der Bedeutsamkeit anzusiedeln ist?
Dass dies schwierig, aber nicht unmöglich ist, zeigt die 2016 erschienene Dissertation der Politikwissenschaftlerin Ingrid Fricke. Sie hat eine politische Biografie Franz Künstlers verfasst, des Vorsitzenden der Berliner SPD in der Weimarer Republik - und das, obwohl zu Künstler weder ein persönlicher Nachlass, noch lebende Nachkommen vorhanden sind, sondern lediglich Aussagen seiner politischen Weggefährten und nationalsozialistischen Verfolger sowie unzählige Zeugnisse seiner politischen Aktivitäten in Form von selbst verfassten Flugblättern, Artikeln in Zeitschriften und Zeitungen sowie Protokollen von politischen Versammlungen, Parteitagen und Jahresberichten.
Um aus diesen Mosaiksteinen ein Gesamtbild von Franz Künstler zu erstellen, verknüpft Fricke im Rahmen einer chronologischen Darstellung seine Herkunft, seinen beruflichen und politischen Werdegang sowie die Entwicklung seiner politischen Positionen mit der Geschichte der Berliner SPD als Teil der gesamten deutschen Sozialdemokratie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Schließlich soll, so Frickes Absicht, ihre Arbeit nicht nur erstmals und umfassend Franz Künstlers politisches Leben nachzeichnen, sondern gleichzeitig eine bis dato bestehende Lücke in der Historiografie der Berliner Sozialdemokratie von 1914 bis 1942 schließen. Wichtige Stationen und (Um-)Brüche in der Geschichte der Partei werden daher zu Schlüsselmomenten in Künstlers politischem Leben.
Trotz dieser Vermengung von Ereignis-, Partei- und Personengeschichte und der wenigen persönlichen Quellen gewinnt die politische Figur Franz Künstler im Laufe der Lektüre an Konturen und Schärfen. Das liegt daran, dass Ingrid Fricke das Augenmerk ihrer Darstellung auf besondere Entscheidungssituationen in seinem politischen Leben lenken und die Gründe für seine Haltung zu bestimmten Themen herausarbeiten kann. [1] Auch politische Fehlentscheidungen und Verdienste hebt sie hervor.
Gleich im ersten Kapitel stellt Fricke die Lebenswelt der Berliner Lehrlinge und ihre Organisation in Jugendverbänden so dar, dass Künstler als Teil dessen erscheint, obwohl es für diese Phase seines Lebens kaum Quellenmaterial gibt. Dennoch wirkt plausibel, dass ihn diese Erfahrungen für sein späteres politisches Engagement geprägt haben müssen, insbesondere die Mitgliedschaft in einem Jugend-Gesangsverein der Arbeiterbewegung, da er dieses Hobby zeitlebens gepflegt und das gemeinsame Singen sogar zu einem Element der sozialdemokratischen Widerstandsarbeit im Dritten Reich gemacht hat (29-31; 418-421).
Ebenfalls gelungen ist die Beschreibung, wie sich Künstlers Haltung zur KPD entwickelte: Von anfänglicher Distanz über eine gewisse Sympathie vor dem Hintergrund der Erfahrungen von Erstem Weltkrieg und Revolution (111) hin zur definitiven Erkenntnis der Unvereinbarkeit von KPD und SPD, welche er 1920 im Zuge der Verhandlungen der USPD um den Beitritt zur Kommunistischen Internationale gewonnen hatte (146f.). In den folgenden Jahren sah er diese Meinung wiederholt bestätigt, weshalb er versuchte, die SPD gegenüber der KPD in Berlin zu profilieren, was jedoch nicht immer zu deren Vorteil war (beispielsweise im Kontext des "Berliner Blutmai" 1929, 271).
Eine ähnliche Entwicklung zeichnet Fricke bei Künstlers Haltung zur MSPD nach: Obwohl er dem linken Parteiflügel der SPD angehört und während des Ersten Weltkrieges die Mehrheitssozialisten als "Sozialimperialisten" verachtet hatte und zur USPD gewechselt war, stimmte er 1922 schließlich doch der Vereinigung mit der MSPD zu. Auslöser hierfür war, laut Fricke, der Mord an Außenminister Walther Rathenau am Ende einer Reihe politischer Morde durch Rechtsterroristen und Künstlers damit verbundene Einsicht, dass die Republik in Gefahr sei. Zu ihrem Wohle müssten nun "die Differenzen zurücktreten", die Arbeiterschaft "zum gemeinsamen Kampf gegen den gemeinsamen Feind zusammentreten" und sich sogar an der Regierungsarbeit beteiligen (161).
Ein weiteres Verdienst Künstlers sieht Fricke darin, dass er die Arbeit der Berliner SPD mehr in das Licht der öffentlichen Aufmerksamkeit zu rücken versuchte und sie zur Zusammenarbeit mit Genossen aus dem Ausland öffnete (198).
So zeichnet Ingrid Fricke nach, wie sich jene Grundeinstellungen Franz Künstlers entwickelt haben, die sich in den Jahren als SPD-Vorsitzender in Berlin und als Reichstagsmitglied verfestigten und denen er im Widerstand gegen das NS-Regime treu geblieben ist: sein Eintreten für freie Meinungsäußerung und demokratische Entscheidungsfindung, die Verteidigung der Republik, sein Antimilitarismus, sein Pragmatismus, sein soziales Gewissen sowie sein Streben nach internationaler Öffnung und innerem Zusammenhalt der Partei. Dafür wurde er von seinen Anhängern geschätzt, von seinen Gegnern jedoch verfolgt und durch KZ-Haft und Zwangsarbeit gequält, an deren Folgen er 1942 starb. Vor diesem Hintergrund ist tragisch, dass Künstler die Nationalsozialisten unterschätzt hatte, indem er dachte, sie mit legalen Mitteln bekämpfen zu können und daher den Aufbau illegaler Organisationsstrukturen der SPD oder den Gang ins Exil von führenden Parteimitgliedern verurteilt hatte (354-361). Auch das stellt Ingrid Fricke in ihrer Biografie deutlich heraus.
Um Franz Künstlers politisches Profil zu erkennen, ist allerdings ein langer Atem bei der Lektüre nötig. Denn nicht in jedem Kapitel ist er als Protagonist präsent, was dem eingangs erwähnten Quellenproblem geschuldet ist. In den Fällen, in denen Zeugnisse aus dem Privatleben oder Äußerungen Künstlers zu wichtigen Stationen in der Parteigeschichte fehlen, behilft sich die Autorin, indem sie ausholt und politische Entwicklungen oder parteiinterne Diskussionen nachzeichnet - in der Annahme, dass diese Künstlers Erfahrungshorizont entsprochen haben. Das ist parteigeschichtlich verdienstvoll, im Rahmen dieser Biografie jedoch stellenweise zu detailliert (siehe die Abschnitte zur Bildung der SPD-Opposition in Kapitel II, zur Umorganisation der USPD in Kapitel III und zur Geschichte des DMV in Kapitel IV).
Um der Person Franz Künstler näher zu kommen, hätte die chronologische Darstellung zugunsten einer systematischeren aufgebrochen werden können, um beispielsweise seine sozialen Beziehungen und Freundschaften innerhalb der Partei zu beschreiben, wie zu Lisa und August Albrecht oder zu Max Urich, Genossen in der Berliner SPD und im Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Auch hätte die Bedeutung von Trauerfeiern für verstorbene Genossen ebenso wie das gemeinsame Singen zur Pflege des Zusammenhalts im sozialdemokratischen Widerstand am Beispiel Franz Künstlers und seiner Freunde stärker herausgearbeitet werden können.
Dennoch bleibt am Ende der Lektüre dieser umfangreichen Arbeit der Eindruck von Franz Künstler als starker politischer Größe in der Weimarer Republik, die die Berliner SPD mit Engagement, Prinzipientreue, Besonnenheit und Mut durch schwierige Fahrwasser in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geführt hat.
Anmerkung:
[1] Mit diesem Ansatz folgt Ingrid Fricke Volker Depkats Empfehlungen zum Verfassen einer politischen Biografie aus dem Kontext der Arbeiterbewegung des 20. Jahrhunderts, die dann gelingt, wenn eine Identität nicht als gegeben angesehen, sondern ihre individuelle Entwicklung anhand von Brüchen nachgezeichnet wird (21). Siehe Volker Depkat: Ein schwieriges Genre: Zum Ort der Biografik in der Arbeitergeschichtsschreibung, in: Biografische Ansätze zur Geschichte der Arbeiterbewegung im 20. Jahrhundert (= Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen, Nr. 45), Essen 2011, 21-35, hier 35.
Doris Danzer