Johannes Paulmann / Matthias Schnettger / Thomas Weller (Hgg.): Unversöhnte Verschiedenheit. Verfahren zur Bewältigung religiös-konfessioneller Differenz in der europäischen Neuzeit (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abt. für Universalgeschichte; Bd. 108), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2016, 213 S., ISBN 978-3-525-10143-8, EUR 65,00
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Bettina Braun / Katrin Keller / Matthias Schnettger (Hgg.): Nur die Frau des Kaisers? Kaiserinnen in der Frühen Neuzeit, Wien: Böhlau 2016
Henning P. Jürgens / Thomas Weller (Hgg.): Religion und Mobilität. Zum Verhältnis von raumbezogener Mobilität und religiöser Identitätsbildung im frühneuzeitlichen Europa, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010
Wenn sich im kommenden Jahr der Beginn der Dordrechter Synode am 13. November 1618 zum vierhundertsten Mal jährt, wird man mit großer Gewissheit auch dem niederländischen Theologen und Remonstranten Simon Bisschop (1583-1643) gedenken, der es trotz einer viel beachteten Verteidigungsschrift nicht verhindern kann, dass er selbst wie auch alle anderen Anhänger des Remonstrantimus / Arminianismus auf synodalem Geheiß nach der 57. Sitzung das Gremium verlassen muss. Weil sie sich ihrer Dogmatik verhaftet weigern, die Beschlusskraft der Versammlung der niederländisch-protestantischen Kirchen anzuerkennen, werden die Arminianer - Simon Bisschop (lat. Episcopius) steht ihnen auf der Synode als Verteidiger vor - ausgeschlossen und verbannt. Episcopius verlässt Leiden und kehrt nach Stationen in Köln, Antwerpen, Rouen und Paris 1625 wieder in die Niederlande zurück, wo er 1634 Ordinarius des Remonstrantischen Seminars der Universität Amsterdam wird. Die Erfahrung von Ausgrenzung und Ächtung nähren in Bisschop die Erkenntnis, dass statt alltäglicher Konfrontation und Provokation ein gegenseitiges Tolerieren förderlicher für die eigene politische und religiöse Autonomie sowie für den Fortbestand und die Wirtschaftlichkeit des Gemeinwesens sei. Er verfasst zwei Schriften, Vrye Godes-dienst (1627) und die Apologia pro confessione (1629), in denen er unter anderem für ein friedliches Nebeneinander aller Beteiligten wirbt. [1]
Wie sich in sozialen Systemen der europäischen Neuzeit Akteure (wie Simon Bisschop) im Spannungsfeld religiös-konfessioneller Heterogenität und Disparität Handlungsfähigkeit in ihrem Alltag behaupten und Strategien zur Konfliktbewältigung im öffentlichen Raum verhandeln, zeigt der nun jüngst von Johannes Paulmann, Matthias Schnettger und Thomas Weller im Verlagshaus Vandenhoeck & Ruprecht herausgegebene Kolloquiumsband "Unversöhnte Verschiedenheit: Verfahren zur Bewältigung religiös-konfessioneller Differenz in der europäischen Neuzeit", der als Beiheft 108 in die Reihe der Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz aufgenommen wurde. In ihrem Anspruch, anhand eindeutiger Fallbeispiele die Komplexität der durch religiöse Pluralität, politische Machtverhältnisse und normative Verhaltenserwartungen hervorgerufenen Probleme zu vergegenwärtigen, liefert der Band dank seiner zehn Beiträge, die zeittypische Konfliktvarianten abbilden, eine nahezu vollständige europäische Perspektive.
Bewusst verzichten die Herausgeber darauf, eine Systemtheorie kommunikativer Toleranz in der europäischen Neuzeit geben zu wollen. Noch werden die neuzeitlichen Bewältigungsprozesse sozialutopisch idealisiert oder gar als Lösungsmuster aktueller, gegenwärtiger Probleme apostrophiert. Im Gegenteil, der sezierende Blick auf die Modelle und Verfahren, die in der europäischen Neuzeit auf der Suche nach Konsens und Koexistenz entwickelt, erprobt und verworfen werden, führt umgehend zu der Erkenntnis, dass das Mit- und Nebeneinander immer wieder, den sich ändernden politischen, kulturellen, religiösen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der jeweiligen Gesellschaft angepasst und neu verhandelt werden muss.
Aufgrund der Tatsache, dass es sich also bei diesen Verfahren und Verhandlungen um fortwährende, immer wiederkehrende Prozesse im Öffentlichen handelt, wählt Johannes Paulmann den Tempelberg / Haram al-Sharif in Jerusalem als Ausgangspunkt seiner Einleitenden Bemerkungen (9-17): Während Juden und Muslime gleichermaßen den Ort für sich beanspruchen und in jahrzehntelanger Auseinandersetzung Differenzen durch Praktiken der Dissimulation und Marginalisierung ritualisierten, ist der Staat aufgefordert, die öffentliche Ordnung zu gewährleisten und, falls möglich, zu einer Lösung des Konflikts beizutragen. Schon hier wird deutlich, dass durch die stetige Verflechtung von Öffentlichem und Religiösem, von Allgemeinem und Privatem, erwarteter Pflicht und erhoffter Freiheit, wie es am Beispiel einer Fürstenkonversion im Beitrag von Matthias Schnettger sehr deutlich gezeigt wird (65-89), die wissenschaftliche Annäherung methodologisch so vorbereitet sein muss, dass sie es ermöglicht, dass die Vielschichtigkeit der Konflikte in Bedeutung und Wirkung erfasst und kommentiert werden können. Dieses Vorgehen kann allen Beiträgen attestiert werden, die hier präsentiert werden.
Demgemäß setzt sich Johannes Arndt in seinem Beitrag (19-39) zum Nebeneinander der Konfessionen in der niederländischen Republik (1581-1795) mit Toleranz als "Leitwert" (38) auseinander und arbeitet sie als "Ergebnis eines Gewöhnungsprozesses im Umgang mit Anderen, [als] ein Element der Komplexitätsreduktion" (ebd.) heraus, welches dauerhaft sozialen Frieden schafft. Komplexitätsreduktion bestimmt auch das Handeln der protestantischen Monarchen König Elisabeth I. von England und ihrem Nachfolger dem englisch-schottischen König Jakob I. und VI., die zur Wahrung der eigenen Autorität eine Loyalitätsbekundung ihrer katholischen Untertanen einfordern (126), wie es Bettina Braun in ihrem Beitrag sehr ausführlich belegt (125-139). Sie weist zugleich eine Variante aus, wie eine mögliche Reaktion auf religiöse Differenz in der Neuzeit aussehen kann.
Barbara Stollberg-Rilinger macht noch drei weitere Varianten der politischen Reaktion aus, die in einem Schlusskommentar dargelegt werden (197-204): Die staatlichen Institutionen zeigen sich religiös neutral und ermöglichen durch ihren Abstand den Konfliktparteien eine friedliche Lösung des Streits - eine Variante, die man in Ansätzen im Beitrag von Jan Kusber zur Situation religiös-konfessioneller Differenz im neuzeitlichen Russland sehen kann (179-196). Eine zweite Variante, wie Christophe Duhamelle es beschreibt, der sich mit der doppelten Osterfeier 1724 im Alten Reich befasst (107-123), basiert auf der Grunderkenntnis, dass die Konfessionsparteien durch formale Paritätsregeln und dem Zwang zur friedlichen Einigung nebeneinander leben, weil keine Seite in der Lage ist, die andere zu überwinden. Als dritte Variante hebt Barbara Stollberg-Rilinger ein Prozedere hervor, das sich vor allem in Herrschaftsräumen geriert, in denen Obrigkeit und Glaubenswahrheit identisch sind. Dort werden abweichende Positionen marginalisiert und im Zuge eines Homogenisierungsprozesses die Untertanen zur äußerlichen Konformität gezwungen. Das beweisen die Beiträge von Martin Wrede, der sich am Beispiel der Herzöge von La Trémoille mit Konfessionsverschiedenheit in Frankreich beschäftigt (141-159), und Thomas Weller, der eindringlich religiöse Differenz in Spanien am Beispiel der zugewanderten protestantischen Minderheit thematisiert (41-63).
"Unversöhnte Verschiedenheit" ist dem deutschen Historiker Heinz Duchhardt gewidmet. Der Band vereint Beiträge von akademischen Weggefährten, Kolleginnen und Kollegen sowie Schülerinnen und Schülern, die auf einem Kolloquium aus Anlass des 70. Geburtstags von Heinz Durchhardt vorgetragen worden sind. Der Band ist bis in die letzte Fußnote äußerst lesenswert, er besticht durch eine sehr sorgfältige und fundierte Quellenarbeit, die Untersuchungsergebnisse werden präzise, in einem anspruchsvollen, aber keineswegs fachsprachlich überbordendem Schreibstil herausgearbeitet, ohne dass es zu unnötigen Redundanzen kommt. Neben einer klassischen Gliederung erhält der Band ein Autorenverzeichnis (205) sowie ein Orts- und Personenregister (207-13). Im Massenbetrieb Festschriftproduktion (ad nauseam!) stellt "Unversöhnte Verschiedenheit" eine gelungene Ausnahme dar. Mit ein wenig Pathos darf man sagen: Wenn so die Schülerinnen und Schüler schreiben, muss der Lehrer herausragend sein.
Anmerkung:
[1] Andrew Pettegree: "The Politics of Toleration in the Free Netherlands, 1572-1620", in: Tolerance and Intolerance in the European Reformation, ed. by Ole Peter Grill / Bob Scribner, Cambridge 1997, 182-198.
Christof Ginzel