Rezension über:

Steffen Huber: Einführung in die Geschichte der polnischen Sozialphilosophie. Ausgewählte Probleme aus sechs Jahrhunderten (= Veröffentlichungen des Deutschen Polen-Instituts Darmstadt; Bd. 33), Wiesbaden: Harrassowitz 2014, 251 S., ISBN 978-3-447-10232-2, EUR 26,00
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Rezension von:
Christoph Maisch
Kulturwissenschaftliche Fakultät, Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/O.
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Christoph Maisch: Rezension von: Steffen Huber: Einführung in die Geschichte der polnischen Sozialphilosophie. Ausgewählte Probleme aus sechs Jahrhunderten, Wiesbaden: Harrassowitz 2014, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 2 [15.02.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/02/29850.html


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Andere Journale:

Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Steffen Huber: Einführung in die Geschichte der polnischen Sozialphilosophie

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Steffen Huber widmet sich in seinem Buch einer dezidierten Auswahl philosophischer Persönlichkeiten und Fragestellungen der letzten Jahrhunderte, wie zum Beispiel der Aussage Jean-Jacques Rousseaus: "Liest man die politische Geschichte Polens, kann man sich kaum erklären, wie ein so sonderlich verfasster Staat so lange bestehen konnte" (155). Huber gelingt es dabei, sozialphilosophische Texte aus Mittel- und Osteuropa für ein deutsches Publikum zu erschließen und zu kontextualisieren. Hier liegt die große Stärke des Buches, da Fragestellungen und Denkmuster des "Westens", insbesondere Deutschlands, aber auch Italiens, Frankreichs und Großbritanniens kunstvoll mit den polnischen Fragestellungen des vermeidlichen "Ostens" verwoben werden. In dieser Gratwanderung zwischen divergierenden philosophischen Schulen werden System- und Denkbrüche verdeutlicht, aber leider auch an manchen Stellen feststehende Gegensätze zwischen den Konstrukten "West" und "Ost" festgeschrieben. Dennoch, einen Dialog zwischen den Denkschulen anzustoßen, der die polnischen Ausprägungen eben nicht als Adaption "westlichen" Wissens begreift, sondern als Innovationsträger, die im großen Maße auf Europa Einfluss nahmen, ist die eigentliche Leistung des Autors. Dieser Fokus erklärt sich durch die Verbindung aus Theorie und Praxis besonders im Kontext von Toleranzdebatten, die für fast alle im Buch auftauchenden Denker eine wichtige Rolle spielt. Dabei verfolgt Huber durch die Jahrhunderte die Hauptströmungen, die nominalistischen Anfänge, die realistische Prägung, immer wieder den Bezug zwischen Philosophie und Politik und einzelne Aspekte des Universalienstreits. Als Beispiel sei hier die realistische Prägung erwähnt, die den Diskurs zwischen denkunabhängiger und denkabhängiger Realität sowie deren Beschreibung umfasst. Huber spannt hier einen gut nachvollziehbaren Bogen von Matthäus von Krakau und Paweł Włodkowic im 14. Jahrhundert bis zu den Arbeiten von Kazimierz Adjukiewicz und Władysław Tartakiewicz aus der Lemberg-Warschau-Schule im 20. Jahrhundert.

Die ersten fünf Kapitel sind am besten konzipiert. Huber beginnt mit den Lehrenden der philosophischen Fakultät der Jagiellonen-Universität, wo nominalistische wie realistische Strömungen nebeneinander existierten und praktische Ideen für den polnisch-litauischen Staat in Bezug auf das Natur-, Kirchen- und Staatsrecht im Kontext des Konfliktes mit dem Deutschen Orden gesammelt wurden. Dies geschah im Sinne einer Legitimitäts- und Toleranzdebatte für den teilweise nicht christianisierten polnisch-litauischen Staat und prägte den Diskurs bis ins 16. Jahrhundert. Ab diesem Zeitpunkt wurde, nach Huber, mit dem Einzug der polnischen Sprache in die Philosophie eine sehr frühe und breite Rezeption von Politik, Theorie und Praxis in der (Adels-)Bevölkerung möglich. Dabei tritt auch ein erster Gegensatz zu der deutschen Entwicklung auf, wo dies erst mit Immanuel Kant gelang. Ähnlich verhalte es sich mit der Philosophie und dem Obrigkeitsverhältnis: Stützte sich die deutsche sozialphilosophische Tradition oft auf eine Obrigkeitstreue, so sei in der polnischen Philosophie der Dissens der eigentliche Ausdruck der Tugend. Dies spiegele sich besonders in der sarmatischen Adelskultur und dem Liberum Veto wider, das seinen Anfang unter Stanisław Orzechowski genommen und die immer wiederkehrenden Motive des Widerstandsrechtes und der individuellen Moral gegen das Gemeinwesen des Staates dargestellt habe. Dass diese Moral nicht Toleranz bedeuten muss, zeigen verschiedene Beispiele wie Szymon Starowolski, der als Kritiker der Warschauer Konföderation in die Geschichte einging und sich gegen die Polnischen Brüder und die Protestanten richtete. Die Polnischen Brüder akzeptierten zwar das politische System Polen-Litauens, widersetzten sich aber einem rein katholischen Gemeinwesen. Huber zufolge verbanden sie Theologie und Philosophie im Sinne einer "rationalen" Religion, die das friedliche Zusammenleben aller Konfessionen ermöglichen sollte. Die Konzeption der Toleranz bildet einen Kernpunkt des Buches, denn die "polnische" Schule der Sozialphilosophie habe die Erfahrung des kulturell Anderen verinnerlicht und damit den Diskurs über "Metaphysik und religiöse Sittlichkeit als kulturelle Fakten autonom" (17) zu interpretieren gelernt. Leider geht dieser Punkt fast ein wenig in der Vielzahl an philosophischen Konzepten unter. So widmet sich Huber in Kapitel 6 den Ansätzen von Stanisław Konarski, Rousseau, Hugo Kołłątaj, Stanisław Staszic, Henryk Rzewuski und Adam Jerzy Czartoryski im Zusammenhang mit der Teilungsgeschichte Polens und dem Missbrauch des Liberum Veto auf lediglich 30 Seiten. In diesem Kapitel hätte man sich mehr als nur einen Überblick gewünscht.

In den Kapitel 7 und 8 wird mit Adam Mickiewicz ein Rückbesinnen auf die urslawische Demokratie angedacht, um Alternativen zu den aufgeklärten Monarchien des "Westens" aufzuzeigen, da die romantische Strömung als Freiheitsmoment gegen die aufklärerische Rationalität der Teilungsmächte verstanden wurde. Das Liberum Veto steht damit wieder im Fokus. Huber eröffnet die Kritik an Mickiewicz' sozialrevolutionärer Vision mit den Warschauer Positivisten und spinnt diese weiter bis zur Lemberg-Warschau-Schule. Hier stellt Tadeusz Kotarbiński die Trennung zwischen Philosophie und Leben in Frage und eröffnet einen Diskurs über eine weltanschaulich neutrale Lehre von ethischen Normen, die sich nahtlos in die vorangegangene Debatte einreiht. Das Buch endet mit Henryk Elzenbergs Kulturbegriff und seinem Konflikt mit den Logikern. Ethik und die Definition der Politik verortet Elzenberg dabei immer im Individuum und niemals im Kollektiv, denn das Kollektiv sei einstimmig, Individuen aber polyphon. Die Toleranzdebatte verlagert sich damit zwangsläufig aus dem öffentlichen Raum ins Individuum und gibt der Diskussion damit noch einmal eine Wende.

Leider endet das Buch ohne ein abschließendes Kapitel. Man erwartet vergebens ein übergreifendes Nachwort, das die vielen relevanten roten Fäden aus der Geschichte und den Strömungen der Sozialphilosophie in Polen noch einmal in einem Strang zusammenspinnen würde. Die reine Materialmenge mag dies verhindert haben. Dennoch ist es ein sehr zu empfehlendes Buch zur Einführung, dem ein oder zwei Theoretiker weniger nicht geschadet hätten.

Christoph Maisch