Matheus von Boulogne: Lamentationes Matheoluli. Kritisch herausgegeben und kommentiert von Thomas Klein (= Quellen und Untersuchungen zur Lateinischen Philologie des Mittelalters; Bd. 17), Stuttgart: Anton Hiersemann 2014, XIV + 414 S., ISBN 978-3-7772-1407-8, EUR 196,00
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Katherine L. Jansen / G. Geltner / Anne E. Lester (eds.): Center and Periphery. Studies on Power in the Medieval World in Honor of William Chester Jordan, Leiden / Boston: Brill 2013
Louis-Jaques Bataillon / Nicole Bériou / Gilbert Dahan u.a. (éds.): Étienne Langton, prédicateur, bibliste, théologien. Études réunies par, Turnhout: Brepols 2010
Albrecht Classen (ed.): Handbook of Medieval Studies. Terms - Methods - Trends, Berlin: De Gruyter 2010
Das Leben meinte es nicht gut mit ihm - so sah er es zumindest selbst. Matheus von Boulogne, aus guter Familie stammend, hatte in Orléans Recht und Logik studiert und war in den Dienst der Bischöfe seiner Heimatstadt Thérouanne getreten. Eine mehr oder minder erfolgreiche Karriere wäre möglich gewesen - hätte er nicht geheiratet, hätte er vor allem nicht nach dem II. Konzil von Lyon 1274 geheiratet, dessen Beschlüsse Klerikern eine Eheschließung klar untersagt hatten. Matheus musste mit den Konsequenzen leben, verlor er doch sein Klerikerstatut mit den damit verbundenen Privilegien. Wahrscheinlich war er noch davon ausgegangen - wie früher in solchen Fällen üblich - eine Dispens zu erhalten. Ob die Ehe mit seiner Frau Petronilla tatsächlich die Hölle auf Erden war, als die er sie so eindrucksvoll schilderte, oder ob Matheus sein Karriereende und die lebenslang empfundene Zurücksetzung schlicht seiner Frau anlastete, entzieht sich unserer Kenntnis. Beweise tiefer ehelicher Liebe und Zuneigung finden sich in einer im Jahr 1290 oder 1291 verfassten und dem Bischof und höheren Klerus seiner Heimatstadt Thérouanne gewidmeten Schrift, den so genannten Lamentationes, jedenfalls nicht. Im Gegenteil: selbst für das an misogynen Texten reiche Mittelalter stellen die Lamentationes einen Sonderfall dar. Ob Mathieu Bischof und Domkapitel für seine Belange interessieren konnte, wissen wir nicht. Sein weiteres Schicksal bleibt im Dunkeln.
Thomas Kleins kritische Edition eines zentralen und mit fast 5700 Versen ausgesprochen umfangreichen misogynen Textes des Mittelalters baut auf Vorarbeiten Alfred Schmitts aus dem Jahr 1974 auf. Schmitt hatte im Rahmen seiner bei Dieter Schaller entstandenen Dissertation damals Buch I und II der aus vier Büchern bestehenden Lamentationes ediert - eine Arbeit, die vom in Halle lehrenden Mittellateiner Klein recht undiplomatisch als "weniger hilfreich" (xiii) charakterisiert, gleichwohl aber genutzt wird. Die Forschungsgeschichte, die Klein in seiner Einleitung minutiös entfaltet, wartet mit Überraschungen auf, war der lateinische Text doch bis ins 19. Jahrhundert hinein verschollen. Man wusste von ihm über einen Umweg: Jehan le Fèvre, Pariser Parlamentsanwalt, hatte ihn 1370/71 ins Französische übersetzt. Der Erfolg seiner Bemühungen zeigt sich in der Anzahl erhaltener Handschriften und den Lesespuren, die er in den Werken von Autoren wie Christine de Pizan, Martin Le Franc oder auch François Villon hinterlassen hat.
Bereits Ende des 15. Jahrhunderts erschienen die ersten Drucke des "Matheolus" bzw. "Livre de Matheolus". In der französischen Übersetzung hatte man offensichtlich das im Lateinischen verwendete Matheolulus nicht als Diminutivform identifiziert, mit der Mathieu seine aufgrund der katastrophalen Ehe inferiore Stellung zum Ausdruck bringen wollte, und daraus die Rückbildung Matheolus konstruiert.
Dieser Erfolg dürfte die weitere Verbreitung des lateinischen Originals enorm behindert haben. Die Originalschrift wurde in der Bibliothek des Domkapitels von Thérouanne aufbewahrt und ging wohl bei der Zerstörung der Stadt durch die Truppen Karls V. 1553 verloren. Spätestens im 18. Jahrhundert wusste man nichts mehr von der lateinischen Fassung. Dies sollte sich erst 1888 ändern, als in der Utrechter Universitätsbibliothek eine Handschrift der Lamentationes gefunden wurde. Paul Lehmann steuerte weitere Funde bei, Anton Gerard van Hamel präsentierte die editio princeps im Jahr 1905. [1]
Acht Handschriften des lateinischen Textes sind erhalten (Bonn, ULB, cod. S. 220; London, BL, Cotton Cleopatra C IX; Erfurt-Gotha, UFB, Dep. Erf., CA. 4o 2; London, BL, Harley 6298; Köln, Historisches Archiv, GB oct. 56; Straßburg, Seminarbibliothek, Cod. C. VI. 7; Utrecht, UB, cod. 819; Wolfenbüttel, HAB, cod. Guelf. 37.34 Aug. 2o), wobei fünf aus dem 14. Jahrhundert stammen. Die stemmatische Analyse wird dadurch erschwert, dass nahezu alle vollständigen Überlieferungsträger nicht voneinander abhängig sind. Der Grund ist ebenso einfach wie einsichtig: sie weisen jeweils verschiedene Textlücken auf.
Die Länge der einzelnen Bücher des Werks mit seinen einzelnen oder paarweise gereimten Hexametern variiert erheblich: dem mit nur 654 Versen kürzesten Buch I folgen Buch II mit 1677, Buch III mit 1440 und schließlich Buch IV mit 1853 Versen. Der Beginn jedes einzelnen Buchs ist durch Zitate von Gedichtanfängen antiker und mittelalterlicher Autoren klar markiert. Nach einem Prolog, in dem Adressaten, Intention, Thema und Titel des Werks behandelt werden, richtet sich in Buch I der Blick auf fünf sophistische Fehlschlüsse, mit deren Hilfe die Frau Verstand und Sinne des Mannes verwirrt. Konsequent weitergeführt wird die Thematik in Buch II, wo zunächst weibliche Laster abgehandelt werden, auf die eine knappe Ehelehre folgt. Mathieu nimmt kein Blatt vor den Mund: Frauen sind für ihn monstra, geschaffen preter consensum Nature. Die Perspektive verschiebt sich in Buch III mit einem Traum des über sein Ungemach jammernden Dichters, in dem selbst Gott Zielscheibe der Angriffe wird, denn schließlich habe er den Menschen dadurch getäuscht, dass er selbst im Wissen um die weibliche Natur nicht geheiratet habe. Im Traum wird Mathieu ins himmlische Paradies entrückt und sieht dort unter Engeln, Evangelisten und Patriarchen auch die verstorbenen Ehemänner wandeln. Sie sind offensichtlich der Hölle auf Erden entkommen. Buch IV dient dazu, in einer Atmosphäre des contemptus mundi die Adressaten des Gedichts mit ausführlichen Würdigungen zu versehen, an erster Stelle der Hauptadressat, Jacques le Moiste de Boulogne, Bischof von Thérouanne.
Zwei große Vorbilder standen bei der Abfassung der Lamentationes Pate: zum einen das mittelalterliche philosophisch-theologische Lehrgedicht (mit Alanus ab Insulis als einem der Hauptvertreter, dessen Anticlaudianus von Mathieu breit rezipiert wird), zum anderen die Exilpoesie Ovids. Mathieu kennt die misogyne Literatur seiner Zeit und verarbeitet Teile der zwischen 1222 und 1266/68 entstandenen Vetula ebenso wie einschlägige Stellen aus Ovids Dichtungen, misogyne Poeme des Mittelalters, Fabliaux und nicht zuletzt auch den Rosenroman (um 1275/80).
Die vorliegende Edition berücksichtigt eine breitere Quellenbasis als die Vorgängerausgaben von van Hamel und Schmitt. Sie zeichnet zudem die Rezeption des Textes in der Sprichwortliteratur des 14. und 15. Jahrhunderts nach. Die von den Vorgängern nicht berücksichtigten Kapitel- und Randrubriken wurden wieder eingefügt, die als Orientierungshilfe für den Leser ebenso wenig zu unterschätzen sind wie die Satzzeichen, durch deren opulente Verwendung der Editor so manches komplizierte syntaktische Gefüge sehr viel einfacher verständlich werden lässt. Die Edition arbeitet mit zwei Apparaten: 1. einem kritischen Apparat; 2. einem Similienapparat samt Sachkommentar. Ein Index nominum trägt zur weiteren Erschließung des Textes bei.
Der Rezensent schreibt als Historiker mit "mittellateinischer Vergangenheit". Ist es bloßem Pragmatismus, ist es einem nüchternen Blick auf die Alltagswirklichkeit des akademischen Unterrichts an deutschen Universitäten geschuldet, wenn er sich inzwischen vorstellen kann, was lange Zeit undenkbar schien: eine deutsche Übersetzung? Weshalb verzichtet man auf eine solche Übertragung, durch die der Text doch erst - horribile dictu - das Maß an Breitenwirkung erlangen würde, das ihm gebührt? Die Mauern der Seminare für lateinische Philologie des Mittelalters sind exklusiv und illuster, doch dürfte sich außerhalb dieser Mauern kaum jemand finden, dessen Latein derart tadellos ist, um die vorliegende Edition in Gänze (und in vertretbarem Zeitrahmen) würdigen zu können. Will man einer bits and pieces-Mentalität anglo-amerikanischer Prägung gegensteuern, böte eine Übersetzung zumindest die Chance, größere Passagen des lateinischen Originals mittels des Umwegs über eine Übersetzung zur Kenntnis zu nehmen. Doch hier handelt es sich auch um Verlagsentscheidungen: eine Übersetzung würde den sowieso schon prohibitiven Preis des Bandes in gänzlich inakzeptable Höhen treiben.
Thomas Klein jedenfalls hat seine philologischen Fähigkeiten glanzvoll unter Beweis gestellt und der Forschung einen über alle Zweifel erhabenen kritischen Text der Lamentationes zur Verfügung gestellt. Nun gilt es, diesen zu nutzen.
Anmerkung:
[1] Anton Gerard van Hamel: Les Lamentations de Matheolus et le Livre de Leësce de Jehan Le Fèvre, Paris 1905.
Ralf Lützelschwab