Lucian Hölscher: Die Entdeckung der Zukunft, Göttingen: Wallstein 2016, 372 S., 21 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-1805-2, EUR 28,90
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Der Neuzeithistoriker Lucian Hölscher gehört zu den Pionieren der Zukunftsgeschichte - einer Spezialität der Geschichtsforschung, die über geraume Zeit immer wieder in Ansätzen stecken blieb, in jüngster Zeit jedoch derart in Fahrt gekommen ist, dass sich bereits Schulen abzeichnen. Das passt in die "Zukunfts"-Konjunktur unserer Zeit, wo selbst die Handwerkskammern die Parole ausgeben: "Die Zukunft ist unsere Baustelle." Doch es handelt sich um keinen bloßen Mode-Trend, sondern um ein seit langem bestehendes Desiderat. Denn der Historiker soll die Menschen früherer Zeiten verstehen; dazu muss er jedoch deren Zukunftserwartungen rekonstruieren, die sich nur allzu oft von der tatsächlichen Zukunft jener Zeit krass unterschieden. Viel zu sehr waren die Historiker auf die Retrospektive, auf die Ursprünge und die Ursprünge der Ursprünge fixiert; es war längst an der Zeit, eine Kehrtwende zu vollziehen.
Es ist verdienstvoll, dass Hölscher dabei bereits zu einer Zeit voranging, als Zukunftsgeschichte noch nicht im Trend lag: Das vorliegende Buch ist die überarbeitete und erweiterte Fassung seines unter dem gleichen Titel bereits 1999 erschienenen Buches. Die Darstellung ist flüssig, oft feinsinnig geschrieben und zeugt von einer vielseitigen Belesenheit. Man erkennt, dass der Autor wie sein einstiger Lehrer Reinhart Koselleck besonders der Begriffs- und Ideengeschichte sowie der Geschichtstheorie verbunden ist; doch sein Überblick über Zukunftsvorstellungen seit dem späten 18. Jahrhundert ist keineswegs abgehoben oder abstrakt und hält sich nicht gar zu lange bei der Diskussion diverser Zukunftsbegriffe auf, er vermittelt vielmehr ein farbiges Bild von europäischen Zukunftsentwürfen unterschiedlicher Art: von Prognosen und Projekten, Utopien und Schreckbildern. In der historischen Wirklichkeit hängen verschiedene Zukunftsarten zusammen; zwischen Hoffnungen und Zukunftsängsten besteht oft eine Wechselbeziehung, und ebenso zwischen Prognose und Planung. Gegenüber einer lediglich in luftigen Utopien schwelgenden Zukunftsgeschichte bemüht sich Hölscher, die Zukunftsphantasien in der realen Geschichte zu verwurzeln. Der Reiz dieses Buches beruht im Übrigen nicht zuletzt darauf - und darin liegt eine Ironie! - , dass sich die Darstellung über weite Strecken von seinem Titel und seiner Gesamtstruktur entfernt; das gilt für die Neufassung noch stärker als für die Erstausgabe von 1999.
"Die Entdeckung der Zukunft", mit Wendezeiten um 1770 und 1830: Das ist noch ganz im Geiste Kosellecks, als dessen Assistent Hölscher seine Hochschullaufbahn begann. In seinem Essay über "Vergangene Zukunft" (1968) hatte Koselleck dargestellt, wie zu jener Zeit schubweise Erfahrungs- und Erwartungshorizont auseinanderfallen und "die Zukunft" fortan als etwas ganz Neues gedacht wird. Doch seine Ansätze zur Zukunftsgeschichte blieben essayistischer und aphoristischer Art; in der Folge wandte er sich Denkmalprojekten zu. Lässt sich mit seinem Ansatz Geschichte schreiben, Geschichte mit langem Atem, die der Vielfalt der Zukünfte gerecht wird? Eben dies ist die Frage. Es fällt auf, dass Kosellecks Name in Hölschers Register fehlt. Christian Meier, der Zukunftsdenker unter den Althistorikern, hat daran erinnert, dass man keineswegs erst im späten 18. Jahrhundert entdeckte, dass die Zukunft oft Überraschungen beschert. Und überhaupt: Ist "die" Zukunft etwas, was es zu "entdecken" gibt? Gibt es nicht im Gegenteil eher die Ungewissheit und Mehrdeutigkeit der Zukunft zu entdecken? Eben diese Frage stellt sich gerade auch bei der Lektüre der Darstellung Hölschers, und zwar in der Neufassung noch stärker als in der Erstausgabe. In seinem Nachwort zur zweiten Auflage weist er selber darauf hin, er habe seine "Ausgangshypothese" korrigieren müssen: Mit fortschreitender Moderne sei "an die Stelle der großen teleologischen Zukunftsentwürfe" "die Darstellung multipler Zukunftsmöglichkeiten" getreten, "an die Stelle der einen 'Zukunft' eine Vielzahl von möglichen 'Zukünften'" (325).
In den Fassungen von 1999 und 2016 sind die ersten drei Zukunftsphasen der Moderne gleich: von 1770 bis 1830 die "Periode der Entdeckung", von 1830 bis 1890 die "Periode des Aufbruchs" und von 1890 bis 1950 die "Periode des Höhepunkts", gipfelnd im "Mythos vom Tausendjährigen Reich", mithin einem Höhepunkt fataler Art. Noch in der Neufassung ist der bei weitem längste Teil der Darstellung dieser Periode gewidmet, obwohl Hölscher wie schon 1999 darauf hinweist, das Gerede vom "tausendjährigen Reich" habe "keine prognostische, sondern nur propagandistische Bedeutung" gehabt (273). Darauf folgte 1999 die "Periode des Niedergangs seit 1950"; in der Neufassung ist dagegen "Niedergang" durch "Transformation" ersetzt. Im neuen Nachwort gibt Hölscher zu, "Niedergang" sei verkehrt gewesen; "von einer nachlassenden Beschäftigung mit der Zukunft" könne auch nach 1950 "keineswegs die Rede sein" (325). In der Tat: Wie Elke Seefried in ihrem aus ihrer Habilitationsschrift hervorgegangenen Buch "Zukünfte" (2015) - dem bislang umfangreichsten Opus der Zukunftsgeschichte - in ganzer Breite dargestellt hat, erlebte die professionelle Zukunftsforschung ihren Höhepunkt in den 1960er Jahren und gewann dort zeitweise Einfluss auf die politische Planung. Da gab es nicht "die" Zukunft zu entdecken, sondern eine Mehrzahl möglicher Szenarien zu entwerfen.
Seit den 1950er Jahren inspirierten überdies das "friedliche Atom", die Automation mit den Robotern bis hin zur Digitalisierung der jüngsten Zeit das technologische Zukunftsdenken in nie da gewesenem Maße. Und schließlich die Umweltbewegung mit ihrem Gebot der Vorsorge für künftige Generationen! Diese markiert einen letzten Höhepunkt in der Neufassung des Buches; mit ihr, so anerkennt Hölscher mit Grunde, hätten die Zukunftserwartungen "eine neue Qualität" erlangt (304). In der Phase davor ist jetzt der Architektur und dem Städtebau ein eigenes Kapitel gewidmet (185-199): In der Tat hat sich dort ein die Tradition verachtender Futurismus besonders ausgetobt, jedoch im Zeichen der "Postmoderne" dann einen besonders scharfen Knick erfahren. Das bringt Hölscher in der Neufassung eindrucksvoll heraus: Die Zukunftsgeschichte verläuft nicht geradlinig, sondern in einem dramatischen Zickzack.
Wie schon 1999 zitiert Hölscher im Kapitel "Kosmologische Zeithorizonte" aus einer populärwissenschaftlich gehaltenen Broschüre "Vom Weltuntergang" um 1920, als sonst unter den Deutschen nicht gerade Optimismus angesagt war: "Die uns umgebende Natur, auf Jahrmillionen der ununterbrochenen Entwicklung stehend, hat Lebenskraft für weitere Jahrmillionen. Wie sollte man es glauben können, dass dies je ein Ende hätte?" (151) Mag auch in Jahrmilliarden der Weltuntergang bevorstehen. Heute hat die Ökologie dieses Vertrauen in die Unverwüstlichkeit der Natur nicht nur für Jahrmillionen, sondern bereits für die kommenden Jahrzehnte erschüttert.
Wie aus der Darstellung Hölschers zu erkennen, gilt die Zickzackbewegung der Zukünfte im Übrigen gerade auch für demographische Prognosen; man soll nicht glauben, zumindest hier besitze die Prognostik einigermaßen soliden Grund. Wie schon in der Fassung von 1999 dürfte es viele Leser besonders verblüffen, dass Gustav Schmoller, das Oberhaupt der historischen Schule der deutschen Nationalökonomie, 1899 mit einem Wachstum der deutschen Bevölkerung von damals 52 Millionen auf 104 Millionen im Jahr 1965 - und auf nicht weniger als 208 Millionen bis zum Jahr 2135 rechnete (216). Auch später bestand die Prognostik im Kern vielfach aus nichts anderem als der Extrapolation bisheriger Trends; entgegen der Koselleck-These sind auch in der Moderne Erfahrungs- und Erwartungshorizont mitnichten durch eine Kluft voneinander getrennt.
Spannend ist nun die Frage, ob Schmollers Wachstumsprognose zu jener Zeit eher Hoffnungen oder Ängste weckte. Schmoller war vom Naturell her eher Optimist und erblickte im deutschen Bevölkerungswachstum eine Chance für die Kolonialpolitik; der sehr anders geartete Max Weber dagegen verkündete in seiner Freiburger Antrittsrede von 1895, "schon der dunkle Ernst des Bevölkerungsproblems" - nämlich der zunehmende Bevölkerungsdruck - hindere uns daran, "Eudämonisten" zu sein. Doch das heftige Zickzack der demographischen Prognosen geht weiter: Hölschers Neufassung enthält ein Kapitel "Alterndes Volk", worin er feststellt, bereits zur Zeit der Schmoller-Prognose sei deutschen Demographen "vor allem die seit 1880 einsetzende Abnahme der durchschnittlichen Kinderzahl in Deutschland" als "bedrohlich" erschienen (263). Mehr und mehr grassierte die Sorge, die Deutschen würden künftig durch die zeugungsfreudigen Slawen an die Seite gedrängt werden. 1912 veröffentlichte Julius Wolf ein Buch mit dem Titel: "Die Rationalisierung des Sexuallebens in unserer Zeit". Der kinderlose Max Weber spottete später im Gegensatz zu seiner Warnung von 1895, die Kirche werde den "Onanismus matrimonialis" sprich: das Zweikindersystem ebenso wenig ausrotten wie einst den Zins ("Wirtschaft und Gesellschaft" Kapitel V § 11: "Religiöse Ethik und 'Welt'"). Mit dieser Prognose hat er Recht behalten. Und doch ist im Zuge des globalen Denkens und des Umweltbewusstseins die Sorge vor zunehmender Übervölkerung unseres Planeten erneut an die erste Stelle gerückt.
Wie schon 1999 beginnt Hölscher sein Kapitel über den "großen Krieg" mit der These: "Es gibt in der Neuzeit wohl kaum einen Krieg, der von den Zeitgenossen gleichermaßen intensiv erwartet, befürchtet, ja sogar erhofft worden ist wie der Erste Weltkrieg." (224) Wirklich? Oder könnte dieser Eindruck dadurch entstehen, dass viele Historiker ihren ganzen Ehrgeiz darein setzten, immer neue Ursprünge dieses Krieges zu entdecken - immer neue Gründe zu finden, dass diese Katastrophe ihre historische Logik besaß, statt Ausschau zu halten, ob die Geschehnisse vor dem Juli 1914 nicht auch Alternativen eröffneten und keine Einbahnstraße in den großen Krieg waren? Gerade in der Zukunftsgeschichte sollte eine solche Frage ins Zentrum rücken. Wenn man danach sucht, findet man nicht wenige Indizien, die gegen diese Hölscher-These sprechen. Kein anderer als Lujo Brentano, der brillanteste deutsche Ökonom seiner Zeit, der in der Sozialpolitik viel Hellsicht bewies, hat noch "vierzehn Tage vor Ausbruch des ungeheuren Weltbrandes mit seiner ganzen unwiderstehlichen Logik triumphierend" den Nachweis geführt, "dass die Verflechtung und die Vernunft der modernen Weltwirtschaft jeden Krieg, zumindest jeden längeren Krieg völlig unmöglich mache", so erinnerte sich der Historiker Karl Alexander von Müller. [1]
Die Geschichte der Zukunftserwartungen ist zu weiten Teilen eine Geschichte der Irrtümer - oder der potentiellen Alternativen zum realen Gang der Dinge. Eben dadurch gibt sie Denkanstöße - freilich nur dann, wenn sich der Historiker den billigen Triumph der retrospektiven Besserwisserei verkneift und sich von der Vorstellung freimacht, die Menschen früherer Zeiten seien beschränkter gewesen als er selbst. Von solcher Einbildung ist Hölschers Opus frei. Nicht zuletzt dadurch, doch auch durch die Spannung zwischen seinem ursprünglichem Konzept und weiten Teilen der neu überarbeiteten Darstellung reizt sein Buch zum Weiterforschen und Weiterdenken. Wenn auch die Zukunft grundsätzlich ungewiss ist, so spricht doch einiges für die Prognose, dass die Zukunftsgeschichte Zukunft hat.
Anmerkung:
[1] Karl Alexander von Müller: Aus Gärten der Vergangenheit. Erinnerungen 1882-1914, Stuttgart 1951, 229.
Joachim Radkau