Rezension über:

Anastasia Brakhman: Außenseiter und "Insider". Kommunikation und Historiographie im Umfeld des ottonischen Herrscherhofes (= Historische Studien; Bd. 509), Husum: Matthiesen 2016, 292 S., ISBN 978-3-7868-1509-9, EUR 49,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Simon Groth
Köln
Redaktionelle Betreuung:
Jessika Nowak
Empfohlene Zitierweise:
Simon Groth: Rezension von: Anastasia Brakhman: Außenseiter und "Insider". Kommunikation und Historiographie im Umfeld des ottonischen Herrscherhofes, Husum: Matthiesen 2016, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 4 [15.04.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/04/29265.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Anastasia Brakhman: Außenseiter und "Insider"

Textgröße: A A A

Im Mittelpunkt dieser bei Gerhard Lubich in Bochum entstanden Dissertation steht die Frage nach der Integrations- und Sozialisationsfunktion von Kommunikation am Beispiel ausgewählter Werke der ottonischen Historiographie (Liudprand von Cremona, Widukind von Corvey und Hrotsvit von Gandersheim). Konkret geht es um die jeweilige "Entstehungssituation, Ausrichtung sowie [die] möglichen Intentionen der Autoren" (11). Die Autorin ist sich des zerklüfteten Gebirges, das die Forschung zu diesem Untersuchungsgegenstand heutzutage darstellt, durchaus bewusst, und (wenig überraschend) hat man am Ende der Lektüre das Gefühl, vieles des Gelesenen bereits aus anderen Zusammenhängen zu kennen. Gleichwohl erweitert Brakhman mittels einer eigenständigen Fragestellung die Sichtweise auf die bereits vielfach behandelten Werke und Autoren, die sie minutiös analysiert und auf Indizien für ihren eingangs explanierten Ansatz prüft.

Dieser wird in ihrer knappen Einleitung (11-28) skizziert. Ausgehend von einer Definition Volker Depkats greift Brakhman dabei den Begriff der Kommunikation auf und definiert mittelalterliche Historiographie als "spezifische Art [...] kommunikativen Verhaltens" (13). Anschließend widmet sie sich in ihrem Hauptteil (29-154) den insgesamt vier überlieferten Werken Liudprands (Antapodosis, Homelia, Historia und Relatio) und fragt jeweils nach Abfassungsintention, Empfängerkreis und Kommunikationsebenen (41-154). Im Gegensatz zu Widukind und Hrotsvit sieht Brakhman in Liudprand einen "Außenseiter", der mittels seiner Kommunikation versuchte habe, seine soziale Position zu verbessern beziehungsweise zu bewahren. Doch obwohl sie aus der Antapodosis sowie der Homelia "das unzweideutige Streben nach einer höheren sozialen Stellung" herausliest und diese als Versuch versteht, "sich dieser vermittels eines literarischen Werks zu nähern", muss sie einräumen, dass die Gründe für die Promotion Liudprands zum Bischof von Cremona im Jahr 961/962 offen bleiben (müssen): "ob sich Otto I. aber von seinen Schriften hatte beeindrucken lassen, vielleicht dem Rat eines seiner geistlichen Ratgeber Gehör schenkte oder aber die Entscheidung aus ganz anderen Gründen getroffen wurde, bleibt unbekannt" (153).

Ihr Konzept einer kommunikationsgeschichtlichen Untersuchung erinnert dabei ein wenig an die soziologische Systemtheorie nach Niklas Luhmann, die möglicherweise den eher knapp gehaltenen theoretischen Unterbau gewinnbringend hätte ergänzen können. Auch ihre Bemerkungen zu den beiden titelgebenden Termini "Außenseiter" und "'Insider'" bleiben auf wenige Absätze beschränkt. (Warum derjenige der 'Insider' in einfache Anführungszeichen gesetzt wird, bleibt offen.) Im abschließenden Literaturverzeichnis finden sich die einschlägigen Arbeiten zur ottonischen Historiographie, wenngleich auch hier die eine oder andere Studie noch hätte herangezogen werden können.

Im zweiten Teil der Arbeit, einer kürzer gefassten Analyse der Werke Widukinds (155-208) und Hrotsvits (209-244), werden diese als Insider bestimmt, was jedoch weniger argumentativ wahrscheinlich gemacht als axiomatisch vorausgesetzt wird. Grundsätzlich zielt Brakhman damit auf die jeweilige "Stellung im sozialen Gefüge des ottonischen Reichs" (24), woraus sie Ableitungen für die jeweilige Intention der von ihr untersuchten Werke zieht. Zugleich verweist sie an einer Stelle auf "'Insider'-Kenntnisse" Widukinds (181), ohne auszuführen, was mit diesen 'Kenntnissen' genau gemeint ist. Ist es allgemeines Wissen der ottonischen Elite? Oder ist es spezifisches Wissen des Autors? Ist es spezifisches Wissen des Klosters Corvey?

Abschließend attestiert Brakhman Hrotsvit aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum Stift Gandersheim eine gegenüber Widukind "im höheren Maße als 'Insider'" einzuschätzende Stellung in "Bezug auf ihre soziale Position und ihr Verhältnis zu den Adressaten ihrer Schriften" (224f.). Auch Widukind habe jedoch eine "Herrscherunterweisung" geschrieben, "wie sie nur von einem 'Insider' geleistet werden konnte, dessen Position im sozialen Gefüge des Reichs fest genug war, nicht allein um sich direkt an die Königstochter zu wenden, sondern vor allem um [Ottos] Sohn falsches herrschaftliches Handeln anhand der Taten des regierenden Kaisers zu veranschaulichen". Liudprand hingegen habe "im Falle der Antapodosis" eine "indirekte Herrscherberatung, die die umfangreichen Kenntnisse Liudprands präsentieren sollte", verfasst (200). Doch ist es treffend, den späteren Cremoneser Bischof und Legaten Ottos (selbst zur Zeit der Abfassung der Antapodosis, wo dieser noch in keinem engeren [nachweisbaren] Dienstverhältnis zu Otto dem Großen stand) als Außenseiter im ottonischen Sozialgefüge zu begreifen, während der Corveyer Mönch demgegenüber als Insider anzusehen ist? Dies hängt selbstverständlich von der eigenen Definition ab, doch auch ohne zum überkommenen Bild des 'Spielmanns in der Kutte' zurückkehren zu wollen, müssten die jeweiligen Positionen der Autoren feiner gegeneinander abgegrenzt werden, als dies durch die binäre Gegenübersetzung 'Außenseiter' versus (abgestufte) 'Insider' möglich ist. Zudem bliebe auch zu überlegen, ob diese Terminologie für den erkenntnisleitenden Ansatz Brakhmans, die soziale Stellung der Autoren als Ausgangspunkt der Interpretation zu wählen, wirklich sachadäquat ist, oder ob sie Konnotationen evoziert, die eigentlich gar nicht gewollt sind.

Obschon dieser Vergleich des italischen Geschichtsschreibers als Außenseiter auf der einen und seiner sächsischen Entsprechungen als Insider auf der anderen Seite den Kern der Arbeit ausmacht, liegen (zumindest aus Sicht des Rezensenten) die wichtigen Ergebnisse vielmehr in einer Reihe kleinerer Detailfragen, zu denen Brakhman plausible Antworten bietet. So grenzt sie etwa die Entstehungszeit der Relatio auf die Zeit zwischen Januar und Mai 969 ein (145), vermutet Wilhelm von Mainz als konkreten Empfänger der Antapodosis und Rather von Verona im Sinne eines "Schicksals- und Geistesgenossen" als Adressaten (wohingegen der im Text genannte Bischof Recemund von Elvira lediglich ein "imaginierter Empfänger" in der "Rolle eines literarischen Gesprächspartners" gewesen sei) (60-71) und stellt die Überlegung in den Raum, ob nicht "die Antapodosis Wilhelm [von Mainz] eventuell die Anregung zur Gestaltung eines 'engen Verhältnisses' zu den späteren Geschichtsschreibern wie Hrotsvit, Widukind und Adalbert gegeben haben könnte" (129f.). Auch wenn der Umstand des Wiederauflebens historiographischer Produktion keineswegs eine neue Frage ist, bietet die zeitliche Koinzidenz der 'ottonischen' Historiographie nach wie vor einen Hebelpunkt für weiterführende Forschungen. Speziell die Rolle Wilhelms von Mainz, dem zumindest für Liudprand und Widukind scheinbar die Rolle eines - medienwissenschaftlich formuliert - historiographischen 'Gatekeepers' zukam, müsste noch genauer untersucht werden.

Grundsätzlich greift Brakhman im Verlauf ihrer Argumentation zudem immer wieder Thesen der Forschung zu einzelnen Aspekten des Œuvres Liudprands auf und relativiert in einer stets abwägenden Form einige über das Ziel hinausschießende Vermutungen. Diese Summe der Einzelbeobachtungen sowie die Kompilation der verstreuten Forschungsergebnisse zu Liudprand (aber auch zu Widukind und Hrotsvit) sind die genuine Stärke der Arbeit. Insbesondere Brakhmans konsequente Diskussion der jeweiligen Rezipienten und Auftraggeber der von ihr untersuchten historiographischen Werke - bei der sie etwa für Widukinds 'Sachsengeschichte' vorschlägt, diese sei "anfänglich für Otto II. bestimmt" gewesen (194) - bieten bedenkenswerte Beobachtungen.

Damit steht am Ende der Rezension ein positives Fazit. Zwar vermag die von Brakhman zugrunde gelegte Lesart - Liudprand als Außenseiter gegenüber den Insidern Widukind und Hrotsvit - nicht vollständig zu überzeugen, doch zeigt die Studie als solche, dass die ottonische Historiographie nach wie vor (oder wieder?) ein lohnender Untersuchungsgegenstand mit immer wieder erneuerten Erkenntnismöglichkeiten ist.

Simon Groth