Rebekka Habermas: Skandal in Togo. Ein Kapitel deutscher Kolonialherrschaft, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2016, 391 S., 9 s/w-Abb., ISBN 978-3-10-397229-0, EUR 25,00
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Es ist allgemein bekannt, dass die deutsche Herrschaft in Afrika auf grausamen Kriegen, wirtschaftlicher Ausbeutung und einem vom Rassismus der Zeit getragenen Rechtssystem beruhte. Der koloniale Alltag war von Gewalt und sexuellen Übergriffen geprägt. Warum also, so die Leitfrage, der Rebekka Habermas in ihrem Buch nachgeht, wurde aus einem dieser häufig vorkommenden Fälle, in denen ein deutscher Kolonialbeamter willkürlich und brutal gegen die afrikanische Bevölkerung vorging, ein Skandal, über den der Berliner Reichstag debattierte und der in der deutschen Öffentlichkeit hohe Wellen schlug?
Zur Untersuchung dieser Frage entscheidet sich die Verfasserin für einen mikrohistorischen Zugang. Die Ereignisse in Atakpame, einem Dorf in Togo, stehen im Zentrum des Buches. Von dort ausgehend werden weiterreichende koloniale und globale Zusammenhänge hergestellt. Im Mittelpunkt des "Skandals in Togo" stand Geo Schmidt. Er war Stationsvorsteher in Atakpame und für willkürliche Verhaftungen, Prügelorgien und sexuelle Ausschweifungen bekannt. Seine Amtsführung gab folglich auf lokaler Ebene immer wieder Anstoß zur Kritik von verschiedenen Seiten. Nicht zuletzt die in Atakpame ansässigen Steyler Missionare warfen Schmidt wiederholt Amtsmissbrauch vor und verklagten ihn, nachdem er 1902 die ungefähr zwölfjährige Kautschukhändlerin Adjaro Nyakuda vergewaltigt hatte.
Die Steyler Missionare waren es denn auch, die über die üblichen Kanäle nach Deutschland zurückberichteten. Sie schrieben über die Vorkommnisse in Atakpame an das Mutterhaus in Steyl, ferner kontaktierten sie die Kolonialabtheilung im Auswärtigen Amt und Mitglieder der Zentrumspartei. Über die Abgeordneten des Zentrums wurde die causa Schmidt in die Reichstagsdebatten eingebracht. Als 1906 über den umstrittenen Krieg gegen Herero und Nama debattiert wurde, bedienten sie sich der Ereignisse in Atakpame, um die Stimmung gegen den kostenintensiven Kolonialkrieg anzuheizen. Im sich anschließenden Wahlkampf nutzten prominente Kolonialismuskritiker wie Matthias Erzberger und August Bebel die Berichte über Schmidts wüstes Treiben in Togo, um das kolonialismuskritische Feuer weiter zu schüren. Es überrascht kaum, dass dabei kein Wert auf ethnologische Feinheiten gelegt wurde. Vielmehr bediente man sich eines Afrikabildes, das aus kruden Stereotypen und Überzeichnungen bestand.
Nach Ansicht von Rebekka Habermas wurde hier ein Fall unter vielen zum Skandal aufgebauscht, um die strukturelle Grausamkeit der deutschen Kolonialherrschaft zu vertuschen. Schmidts Vorgehen wurde skandalisiert, um zu suggerieren, dass gewalttätige Beamte die Ausnahme seien, obwohl sie eigentlich die Regel waren. "Sex und Gewalt", so Habermas, gehörten zum "kolonialen Habitus" der Beamten und waren keine persönlichen Obsessionen (256).
Man mag darüber streiten, ob und zu welchem Zweck hier wirklich "gewiefte Katholiken" (42) die Skandalisierung der Vorkommnisse in Togo von langer Hand planten und inszenierten, indem sie zunächst gezielt Informationen zurückhielten, um sie dann 1906 in Politik und Öffentlichkeit zu verbreiten (36). Die These von der Skandalisierung leistet jedenfalls einen spannenden Beitrag zur Diskussion um den transkontinentalen Informations- und Wissenstransfer im "age of globalization". Die Frage, was in Berlin über Afrika und andere Erdteile berichtet und was verschwiegen wurde und wie solche globalen Kommunikationsprozesse politisch instrumentalisiert werden konnten, ist gerade in heutigen "postfaktischen" Zeiten wichtiger denn je.
In anderer Hinsicht bleibt der Erkenntnisgewinn dieser "Microstoria" begrenzt. Die aktuelle Forschung zur Kolonialgeschichte wird vielfach eher gebündelt als erweitert. Dass das Verhältnis zwischen Missionaren, Kolonialbeamten, Militärs und wirtschaftlichen Interessengruppen oft sehr konfliktreich war, hat Andrew Porter für den britischen Kontext schon vor vielen Jahren nachgewiesen. Auch über die deutsche Rechtsprechung in Afrika, über die Mischehenproblematik und über wirtschaftliche Dimensionen des Kolonialismus wie den Baumwollanbau wurde in letzter Zeit viel geschrieben. Wie man im Kaiserreich einen öffentlichen Skandal heraufbeschwören konnte, wurde ebenfalls schon verschiedentlich untersucht.
Hinsichtlich der lokalen Ebene in Atakpame hätte man sich von einer mikrohistorischen Studie auch eine bessere Ausleuchtung der afrikanischen Seite erhofft. Wie die Verfasserin selbst einräumt, stößt ihre zum größten Teil aus den deutschen Kolonial- und Missionsakten gearbeitete Studie schnell an methodische Grenzen, wenn es um die Rekonstruktion der afrikanischen Interessenlagen in der Skandalgeschichte von Atakpame geht (28). Da ständig betont wird, wie sehr der Alltag in Atakpame von den deutschen Gewaltexzessen und sexuellen Übergriffen geprägt war, hätte man dennoch gerne mehr über Gewaltpotentiale sowie über sexuelle Praktiken und weibliche Handlungsspielräume unter den "nicht-deutschen" Beteiligten erfahren. Dass es trotz schwieriger Quellenlage möglich ist, sich gerade im Bezug auf Gewaltformationen und Ehrencodices der afrikanischen Seite anzunähern und zu differenzierteren Ergebnissen zu kommen, zeigt beispielsweise eine neue Arbeit von Sascha Reif über Gewaltkulturen in ostafrikanischen Kriegerverbänden im 19. Jahrhundert.
Innovativ wird der mikrohistorische Zugang dann, wenn Forschungen zur deutschen Kolonialgeschichte und zur "Atlantic History" zusammengeführt werden. Togo war nicht nur deutsche Kolonie, sondern, wie die Verfasserin hervorhebt, auch Teil der atlantischen Welt. So ist immer wieder von afrobrasilianischen Kaufleuten die Rede, und die allseits bekannten Baumwollexperten aus Alabama dürfen auch in diesem Buch nicht fehlen. Eine wichtige Rolle spielt ferner die sich um 1900 formierende panafrikanische Bewegung. In deren Pressewesen wurde der "Skandal in Togo" zwar nur ganz am Rande thematisiert, es wurden aber die Zwangsarbeit und die immer wieder vorkommenden Übergriffe der deutschen Kolonialbeamten angeprangert, und es wurden weitreichende Reformen gefordert.
Die Gegenüberstellung der deutschen und der panafrikanischen Öffentlichkeit ist weiterführend, weil auf diese Weise die Achse Berlin - Togo aufgebrochen und durch eine neue Perspektive ergänzt wird. Allerdings hätte das von Habermas entworfene Gegensatzpaar von der Skandalisierung in der deutschen und der Grundsatzkritik in der panafrikanischen Presse weiter ausdifferenziert werden müssen. Abgesehen von der Skandalisierung im Wahlkampf wurde auch in Deutschland grundsätzliche Kritik am Kolonialismus geübt, und die Berliner Kolonialpolitik bemühte sich hin und wieder um Reformen. Die panafrikanische Bewegung verlangte in ihrer Anfangsphase, also zur Zeit des "Skandals", noch nicht die Abschaffung der Kolonien, stellte damals also noch nicht "die Legitimität kolonialer Herrschaft" (254) in Frage. Die Texte aus der panafrikanischen Presse, auf die sich Habermas bezieht, stammen aus den Jahren nach 1910, wurden also lange nach der Skandalisierung in Deutschland verfasst.
Auch wenn es dem Vergleich ein wenig an Detailgenauigkeit fehlt, so zeigt er doch die Vorteile des mikrohistorischen Ansatzes. Es gelingt, neue Blickwinkel zu finden und transnationale Betrachtungshorizonte zu erschließen. Obwohl man einzelne Punkte kritisieren kann, ist das Buch insgesamt sehr lesenswert. Vor allem ist es spannend geschrieben und dadurch geeignet, über den akademischen Expertenkreis hinaus Interesse an der Kolonialgeschichte zu wecken. Das breite Lesepublikum, an das es sich richtet, wird es sicherlich finden.
Ulrike Kirchberger